Mit der Geschichte vom Ende des tyrannischen Gymnasialprofessors Raat gelang Heinrich Mann bereits im Jahr 1905 eine meisterhafte Karikatur der Wilhelminischen Zeit. Ähnlich wie sein Roman »Der Untertan« gilt auch diese frühe Spießer-Satire als hellsichtige Vorwegnahme deutscher Tyrannei nach 1933. Darüber hinaus aber ist »Professor Unrat« auch einer der ersten Lehrer- und Campusromane und weist auf Meisterwerke wie Nabokovs »Lolita« oder Philip Roths »Der menschliche Makel« voraus.
Professor Raat ist ein spießiger, reaktionärer, unglücklicher, hasserfüllter Lehrer an einem Kleinstadt-Gymnasium, der dort Altgriechisch und Latein unterrichtet. Der Zeitgeschmack und die Bedürfnisser der Jugend interessieren ihn nicht. Die Jugend hasst ihn daher ebenso wie er die Jugend, die er in Wirklichkeit nicht versteht. Da er aber gegen seine Schüler Krieg führt und diese Siege gegen seine Schüler ihm Genugtuung verschaffen, er das Scheitern seiner Schüler aus gutem Hause im LeEben früh beeinflussen kann, indem er diesen schlechte Noten gibt, erhält er ein Gefühl von Macht. Professor Raat fühlt sich der Tugendhaftigkeit derart verpflichtet, dass er seine Schüler regelrecht tyrannisiert.
Alles was auch nur im Ansatz seine Autorität untergraben könnte muß im Keim erstickt werden, denn nichts fürchtet er so sehr wie Machtverlust. Selbst in ehemaligen Schülern, längst erwachsen und im Leben stehend, sieht er noch den Hang zum Aufruhr gegen ihn, obwohl diese sich seiner nurmehr verklärt erinnern. Rufen sie ihn »[…] mit seinem Namen […]« dann in beinahe wehmütiger Erinnerung an ihre Jugendzeit.
Auf drei seiner Schüler hat es Unrat besonders abgesehen, da sie in seinen Augen nur darauf aus sind Unruhe zu stiften. Ertzum, ein junger Adliger von beschränktem Geist, Kieselack, Sohn eines kleinen Hafenbeamten mit Alkoholproblemen, und Lohmann, Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns, der wahrscheinlich intelligenteste unter Unrats Schülern, obwohl seine Leistungen im Unterricht unterdurchschnittlich sind. Als die drei wieder einmal den Unterricht stören, verbannt Unrat sie ins Kabuff, einem kleinen Nebenraum, in dem die Schüler ihre Jacken und Mäntel während des Unterrichts aufbewahren. Dabei gerät ihm Lohmanns Schulheft in die Hände, in dem er einige Verse unter anderem über eine gewisse Künstlerin Fröhlich verfaßt hat. Unrat, dem Lohmanns Intelligenz suspekt ist, wittert hier seine Chance, den Schüler Lohmann zu fassen.
Unrat, der nie aus seinem üblichen Trott herausgekommen ist, täglichen den gleichen Weg geht, versucht nun herauszubekommen, um wen es sich bei dieser Frau handelt. Zuerst denkt er an eine Schauspielerin, doch beim Theater kennt sie keiner. Auf der Suche nach ihr, gerät Unrat ins Hafenviertel. Doch auch dort kann er nichts in Erfahrung bringen, eckt aber bei den einfachen Leuten an. Unrat wendet sich an den Schuhmachermeister Rindfleisch, von dem er glaubt, er könne es wissen. Rindfleisch ist Anhänger der Herrenhuter, einer religiösen Sekte, die alles Sexuelle verdammt und fest davon überzeugt ist, »[…] daß Gott es nur darum erlaubt, auf daß er in seinen Himmel oben mehr Engel kriegt […]«. Unrat verachtet innerlich die unterwürfige Frömmigkeit des Meisters, der ihm auch nicht weiterhelfen kann.
Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen
Unrat zieht es erneut ins Hafenviertel und findet endlich die Künstlerin Fröhlich in einem Lokal namens »Der Blaue Engel«. Rosa Fröhlich arbeitet dort als mittelmäßige Sängerin, ist aber durch ihre Schönheit die Attraktion des Lokals. Im Hinterzimmer, das als Künstlergarderobe genutzt, halten sich allabendlich Kieselack, Ertzum und Lohmann auf. Unrats Erscheinen vertreibt sie. Unrat, der anfangs um seine Schüler von der Künstlerin Fröhlich fernzuhalten, nun selbst jeden Abend in den »Blauen Engel« geht, knüpft langsam eine persönliche Beziehung zu Rosa Fröhlich, bis beide eine Liaison miteinander beginnen. Zwar ist es Unrat gelungen, seine Schüler und ganz besonders Lohmann vom »Blauen Engel« fernzuhalten. Aber da es für einen Mann seiner Position nicht schicklich ist, permanent in einem solchen Haus zu verkehren, entsteht eine Pattsituation zwischen ihm und den dreien – Unrat kann sie nicht mehr mit der gleichen Strenge wie früher behandeln, aber sie können auch nicht wirklich aufbegehren.
Unrats Liaison mit der Künstlerin Fröhlich wird ruchbar, die bigotten Kollegen schneiden ihn, doch kann man den unbeliebten Kollegen nicht so ohne weiteres loswerden. Das besorgt Unrat letztlich selbst als er in einem Prozeß, in dem über die Zerstörung eines Hünengrabes verhandelt, dessen Lohmann, Ertzum und Kieselack angeklagt sind, leidenschaftlich für die Künstlerin Fröhlich, die verdächtigt wird, einen der drei angestiftet zu haben, und gegen seine Schüler Partei ergreift. Die drei werden von der Schule verwiesen, aber auch Unrat ist durch seinen Auftritt untragbar geworden. Er wird in den Ruhestand versetzt.
Er heiratet Rosa Fröhlich und beginnt einen persönlichen Feldzug gegen die Kleinbürgerlichkeit seiner Heimatstadt. Er will jeden »fassen« und vernichten, der ihn Zeit seines Lebens verunglimpft hat. Noch immer sieht er in allen Schüler. Noch lebt er in der Vorstellung, daß es für einen Menschen nichts Schlimmeres gibt als von der Schule verwiesen zu werden.
Während eines Sommerurlaubs am Meer werden er und seine Frau der – durchaus zweifelhafte – gesellschaftliche Mittelpunkt. Aber weil in ihrem Gefolge angesehene Männer sind, echauffiert man sich nur hinter vorgehaltener Hand. Rosa Fröhlich erkennt, daß sie auf Männer der »besseren Gesellschaft« wirkt und beginnt das auszunutzen.
Unrat erkennt seine Möglichkeiten und nach der Rückkehr aus dem Seebad wird sein Haus nach und nach zum besonderen Mittelpunkt des verschlafenen Ortes, der bisher keine Möglichkeit zum Laster geboten hat. »[…] Es gab kein ansehnliches Varieté. Die fünf oder sechs für den Gebrauch besserer Herren abgerichteten Halbweltdamen waren zum Überdruß bekannt, und die Freuden, die sie bieten konnten, wurden einem schal gemacht durch den Gedanken an Haus Unrat und seine Hausfrau. […]« Man erzählt sich hinter vorgehaltener Hand unter anderem von Pfänderspielen, was aber mehr Gerücht als Wahrheit ist.
Die Honoratioren des Ortes gehen in Haus Unrat ein und aus, mit Ausnahme Konsul Lohmanns, der als einziger mit dem Vergnügungsmöglichkeiten der großen europäische Städten bestens vertraut ist und deshalb dieser kleinbürgerlichen Vorstellung von Vergnügen und Laster nichts abgewinnen kann.
Während Unrats zweitem Sommer im Seebad spielt Rosa Fröhlich ihre Macht, die sie über die Männer hat, bewußt aus. Ergebnis; die Braut Richters – ein ungeliebter ehemaliger Kollege Unrats – löste die Verlobung und ein ehemaliger Schüler erleidet beinahe einen tödlichen Badeunfall. Unrat triumphiert; er hat zwei weitere – Schüler – »gefaßt«.
Doch nicht nur die Männer der ersten Gesellschaft verkehren im Haus Unrat, mitunter auch deren Frauen und Töchter, so daß nach einer Reihe von Maskenfesten »[…] Bevor der Sommer anbrach, zogen drei Frauen der guten Gesellschaft und zwei junge Mädchen sich plötzlich zurück, zu einem, wie man fand, verfrühten Landaufenthalt. […]«. Die Gatten werden Opfer ihrer Spielsucht. »[…] Drei neue geschäftliche Zusammenbrüche erfolgten. Der Zigarrenhändler Meyer am Markt beging Wechselfälschungen und erhängte sich. Über Konsul Breetpoot wird gemunkelt … […]«. Breetpoots Fall, zugleich Treuhänder des jungen Ertzum, wird für Unrat zur doppelten Freude.
Das Rad dreht sich immer schneller. Unrat gelingt es, so gut wie alle seine früheren Widersacher – tatsächliche und eingebildete – zu Fall zu bringen. Doch Letztlich werden sie nur Opfer ihrer eigenen Spießigkeit und Doppelmoral.
Unrat weiß, »[…] daß die sogenannte Sittlichkeit in den meisten Fällen auf das innigste mit Dummheit verknüpft ist. […]«.
In Konsul Breetpoots junge lebenslustige Frau Dora war der Schüler Lohmann eine Zeitlang verliebt. Ihr galt seine Leidenschaft, war die Mehrzahl der Gedichte in seinem Schulheft gewidmet und nicht der Rosa Fröhlich, wie Unrat fälschlicherweise annahm.
Auf dem Höhepunkt von Unrats »Herrschaft« über die Kleinstadt kehrt Lohmann aus dem Ausland zurück, wohin ihn sein Vater nach dessen Schulverweis geschickt hat, um seine Ausbildung als Kaufmann zu vervollständigen. Lohmann ist abgeklärter geworden. Er sieht die Kleinstadt und ihre einstigen Honoratioren als das was sie sind; Provinzler. Die von ihm früher so innig verehrte Dora Breetpoot ist nur eine Kleinstadtschönheit wie Rosa Fröhlich auch nur eine Kleinstadtkokotte ist.
Rosa überredet Lohmann mit in ihr Haus zu kommen. Lohmann folgt der Einladung. Dort begegnet Lohmann Unrat. Unrat, der Rosa bereits im »Blauen Engel« den Umgang mit Lohmann verboten hat, versucht in einem Anfall von panischer Wut und Eifersucht, Rosa zu erwürgen. Lohmann geht dazwischen. Rosa flüchtet in ihr Zimmer. Unrat entdeckt die prall gefüllte Brieftasche Lohmanns auf dem Tisch, die dieser dorthin gelegt hat, um Rosa zu zeigen, daß er ohne Gegenleistung bereit wäre, sie und Unrat aus finanzieller Verlegenheit zu helfen. Unrat nimmt die Brieftasche an sich. Doch anstatt sie ihm zu entreißen, verliert Lohmann seine vermeidliche Weltgewandtheit und Toleranz. »[…] Lohmanns Geist, der durch so unglaubwürdige Erlebnisse noch nie erprobt war, warf alle Eigenart ab und antwortete auf »Verbrechen« ganz bürgerlich mit »Polizei«. Wohl bewahrte er das Bewußtsein, dies sei kein besonders seltener Fall, aber er sagte sich: »Da hört’s auf«, und schritt stramm über das Bedenken hinweg. […]«. Lohmanns Anzeige führt zur Verhaftung von Unrat und Rosa. Letzteres hat Lohmann nicht beabsichtigt. Aber die »[…] Stadt war in Jubel, weil Unrats Verhaftung beschlossen war. Endlich! Der Druck des eigenen Lasters war von ihr genommen, da die Gelegenheit dazu entfernt ward. […]«.
Heinrich Manns vermutlich bekanntester Roman erschien 1905 und ist mehr als nur die vordergründige Geschichte eines verhärmten alternden Kleinstadt-Gymnasiallehrers der in später Liebe zu einer Kleinstadtkokotte entbrennt und aus seiner gewohnt kleinbürgerlichen Bahn gerät. Unrat kennt seine Umgebung und deren Spießigkeit nur zu genau und verachtet sie in ihrer provinziellen Dummheit. Unrat ist Witwer, der eine unglückliche Ehe hinter sich hat. Sein einziger Sohn mußte die Stadt verlassen, nur weil er in nicht genehmer weiblicher Gesellschaft gesehen wurde, und von Unrats bigottem Kollegen Hübbenett diffamiert wurde. Hübbenett findet sich später wie viele andere auch unter Unrat »Opfern« wieder. Jedoch fällt es schwer von wirklichen Opfern Unrats zu sprechen. Sie werden vielmehr Opfer ihrer eigenen Kleingeistigkeit oder wie Unrat gegenüber Rosa Fröhlich formuliert: »[…] daß die sogenannte Sittlichkeit in den meisten Fällen auf das innigste mit Dummheit verknüpft ist. […]«.
Unrats Zeit versucht sich in Moral und fördert durch dieses enge Korsett nur das Laster, denn die ganze aufgezwungene vermeidliche Anständigkeit, die wider der menschlichen Natur ist und nur dazu dient, das Volk gefügig zu halten, wie Unrat seine Schüler mit vergleichbaren Methoden, muß sich irgendwann ein Ventil verschaffen. Wie ein Druckkessel, der immer stärker aufgeheizt wird, über ein Ventil Dampf ablassen muß, weil er sonst platzt.
Unrats Haus wird zu diesem Ventil. Doch da die Kleinbürger das Dampfablassen nicht gewohnt sind, werden sie in ihrem Laster genauso so maßlos wie in ihrer Sittlichkeit. Mehrere ruinieren sich im Spiel. Die nach außen hin ehrbaren Frauen und Töchter werden ungewollt schwanger, da die Sittlichkeit verhindert, daß sie Kenntnisse über Verhütung erhalten.
Unrat erfährt jedoch nicht nur Triumphe; er muß auch die Tiefen der Eifersucht durchleben, wenn Rosa mit einem anderen Mann zusammen ist, wenn auch aus keinem anderen Grund als diesen zu »fassen«. Unrat erkennt das Dilemma seiner Situation. »[…] Es steht unter allen Dingen eines fest: Daß jemand, dem die hellsten Gipfel zu erklimmen gelang – daß ein solcher auch mit den undurchdringlichen Schlünden wohlvertraut ist. […]«.
Heinrich Mann teilt seine Zeit nicht einfach in anständige Frauen und Kokotten ein. Die Frauen der »guten Gesellschaft« sind nicht besser als Rosa, vielleicht sogar schlimmer, denn bei ihnen geschieht es hinter einer verlogenen Fassade aus Anständigkeit, während Rosa es für alle sichtbar tut. Rosa Fröhlich besitzt ein Gegenstück innerhalb der »Guten Gesellschaft«: Dora Breetpoot, die zu Beginn des Romans vom jungen Lohmann heimlich verehrt wird. Und von der die ganze Stadt munkelt, daß ein Kind, das sie erwartet, entweder vom Assessor Knust oder vom Offizier von Gierschke aber auch von ihrem Mann sein könnte. Mit der späteren Erwähnung von Dora Breetpoots reicher Kinderzahl wird zugleich auf ihre zahlreichen Liebhaber verwiesen.
Heinrich Mann betont, daß die sogenannten ehrbaren Frauen sich in keiner Weise von den Kokotten unterscheiden und auch nicht anders als ihre Männer sind, die ebenfalls ihre Liebschaften haben, sei es mit Prostituierten oder mit einer Geliebten, die sie aushalten. Aber bei verheirateten Frauen wurde ein Auge zugedrückt und solange der Gatte es nicht merken wollte, nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt, wenn überhaupt.
Der junge Lohmann, den Unrat als seinen persönlichen Gegner betrachtet, obwohl Lohmann mit Unrat sogar ehrliches Mitleid empfindet, ist mehr Beobachter und Kommentator als Beteiligter, den seine heimliche Liebe zu Dora Breetpoot intensiv beschäftigt und der dabei mehrmals in jugendlicher Romantik an Selbstmord denkt. Womit Heinrich Mann auch die seelischen Nöte beschreibt, in die junge Menschen seiner Zeit zwangsläufig gerieten, weil sie ihre aufkeimende Sexualität rigoros unterdrücken mußten. Lohmanns Sympathien bleiben bei Unrat, obwohl dieser ihn bekämpft. Lohmann erkennt früh, daß Unrat in seinem tiefen Inneren ein Anarchist ist und sieht dessen Entwicklung voraus.
Doch so weltgewandt Lohmann sich selbst auch einschätzt, am Ende reagiert er ebenso kleinbürgerlich wie alle mit seiner Anzeige anstatt Unrat einfach die Brieftasche wieder abzunehmen. Jedoch bezahlt auch Lohmann einen Preis; Rosa wird ebenfalls verhaftet.
Unrat, der anfangs nüchtern berechnend seinen Mitbürgern die Maske der Ehrbarkeit vom Gesicht gerissen und finanziell davon profitiert hat, wird am Ende Opfer seiner Vernichtungsgier, denn er verliert Maß und Ziel. Selbstverständlich ist mit seinem Ende nicht gesagt, daß nicht irgendwann jemand anderer kommt und den Kleinbürgern wieder Gelegenheit zum Laster geben kann.
Unrats Verhaftung kann auch als Strafe gesehen werden, daß er sich an dem einzigen Menschen vergreift, der nie etwas gegen ihn hatte. Aber ebenso zeigt sie, daß auch Lohmanns Weltgewandtheit auch nur Fassade ist wie die Sittsamkeit der anderen. Auch darunter zeigt sich der Spießer, der Kleinbürger, wenn an seinen Grundsätzen gerüttelt wird.
Literatur:
Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen von Heinrich Mann
Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen von Heinrich Mann