»Der Sandmann« ist eine Erzählung in der Tradition des Kunstmärchens der Schwarzen Romantik von E.T.A. Hoffmann, die ursprünglich in der Sammlung »Nachtstücke« erschienen ist und erstmals 1816 veröffentlicht wurde. Sie erschien ohne bestimmte Autorenangabe in Berlin.
»Der Sandmann« von E.T.A. Hoffmann gehört zu den bedeutendsten Werken der Romantik, ist ein Paradebeispiel für das spätromantische Kunstmärchen und für den Gruselroman.
Als Hoffmann in den Jahren 1816 / 17 den zweibändigen Zyklus »Nachtstücke« publizierte, in dem unter anderem auch sein heute wohl berühmtestes Werk »Der Sandmann« enthalten ist, hatte er seinen Ruf als besonderer spätromantischer Dichter bereits inne.
Im Zentrum der psychologisch ausgefeilten Erzählung von E.T.A. Hoffmann steht der Physikstudent Nathanael. Besonders interessant an diesem Werk ist der mehrteilige Aufbau des Werkes. Hoffmann beginnt die Erzählung mit einem Briefwechsel. Nathanael schreibt an den Bruder seiner Verlobten Clara, ein Mann namens Lothar. Wie später deutlich wird sind die Eltern von Clara und Lothar früh gestorben, sie kamen zu Nathanael und seiner Schwester, als deren Vater wiederum ebenfalls bereits gestorben war. Clara und Nathanael sind zwar über mehrere Ecken miteinander verwandt, doch – wie das Leben es damals vorgesehen hatte – steht einer Liebe nichts im Wege. Die beiden nähern sich an und blieben sich treu. Während Nathanael im anonym bleibenden Ort G. studiert, reist er nach Absenden seines zweiten Briefes an Lothar nach S., wo die Geschwister nach wie vor in dem Haus wohnen, in dem sei gemeinsam aufgewachsen sind.
Hier ist allerdings der Inhalt der Briefe von Relevanz. Nathanael meldet sich nach einer etwas längeren Schreibpause wieder in seiner Heimat, schreibt den Brief, der zentral für das Handlungsgeschehen werden soll allerdings nicht an Clara sondern an deren Bruder Lothar. Darin berichtet er von einer Begegnung, die er unlängst mit einem sogenannten Wetterglashändler hatte, der ihn an einen Mann erinnerte, der zu früheren Zeiten oft bei seinen Eltern zu Gast war. Die Rede ist vom Advokaten Coppelius, den er eng mit seinem Kindheitstrauma vom Sandmann verbindet, das ihm die Mutter einst erzählte, wenn er abends immer zu einer genauen Uhrzeit ins Bett gemusst hatte. Während ihm die Mutter die Geschichte vom Sandmann richtig und kindgerecht erzählt, bekommt er sie von der Amme der damals noch viel jüngeren Schwester deutlich grausamer vermittelt: Der Sandmann ist nicht etwa eine Gestalt, die den Kindern die Augen mit Sand zustreut bis sie zusammenkleben, sondern eine Gestalt, die den Kindern die Augen ausreißt. Geplagt von diesem Trauma denkt Nathanael stets an den Sandmann, wenn er Schritte auf dem Flur hört, wo er im Bett liegen muss. Eines Tages versucht er herauszubekommen, wie diese Gestalt ist, die er unumgänglich für den Sandmann hält, die immer abends ins Haus kommt und zum Zimmer des Vaters Eintritt verlangt. Er stielt sich eines Nachts in das Büro und wartet, bis der Sandmann in das Zimmer kommt. Als er dann aber den Advokaten Coppelius sieht, der mit dem Vater chemische Experimente durchführt, lockert sich seine Angst nicht etwa sondern projiziert sich auf den Advokaten selbst. Der Vater kommt schließlich bei den Experimenten auf recht grausame Weise zu Tode, und Nathanael sieht nach wie vor die Schuld bei Coppelius.
Als er also von dem Krämer vor seiner Tür, der später den Namen Coppola erhält, an dieses Kindheitstrauma erinnert wird, schreibt er seine Sorgen an Lothar und adressiert den Brief in seiner Rage allerdings an Clara. So kommt es, dass diese ihm antwortet und sich einerseits besorgt über die Lage ihres Verlobten äußert, ihm andererseits sein Trauma und seine Fantasie auch auszureden versucht. Nathanael reist nach S., wo er in der Anwesenheit Claras immer mehr in Düsternis versinkt, anfängt über ihre Augen zu philosophieren und dann schließlich immer weiter abdriftet in seinen Gedanken, was dazu führt, dass ihn Clara mehr und mehr nicht versteht und abweist, was er ihr wiederum zum Vorwurf macht. Als er sie als ein
lebloses Automat bezeichnet, bricht diese zusammen und Lothar, der von der seelischen Verfassung seiner Schwester in Kenntnis gesetzt wird, fordert Nathanael zum Duell heraus. Dies kann verhindert werden und Nathanael schwört Clara ewige Liebe – dennoch ist zu erkennen, dass dies nicht lange währt. Als er nach G. zurückkehrt, wird er von seinem Physikprofessor Spalanzani zu einem Fest in dessen Haus eingeladen, in dem er zum ersten Mal nach Jahren seine schweigsame, schwierige Tochter Olimpia vorstellen möchte. Anfangs erscheint diese Nathanael bei der ersten Begegnung noch leblos, später dann aber ist er gefesselt von ihrer Aura und scheint trotz ihrer wenig kommunikativen, steifen Art dennoch eine rege Konversation mit ihr zu führen: bedingt durch die Ausstrahlung ihrer Augen.
Durch einen Zufall fällt auf, dass Olimpia kein wirklicher Mensch, sondern eben ein Automat - also eine Art Roboter ist -, die der Professor selbst gebaut hat und als lebenden Menschen verkaufen wollte. Spalanzani verliert seine Stelle und Nathanael wird in die Psychiatrie eingeliefert, weil er im Anblick der herausspringenden Augen Olimpias wahnsinnig geworden ist. Als er aus dieser entlassen wird, möchte er Clara heiraten und mit ihr aufs Land ziehen. Bei einem letzten Besuch auf dem Turm, von dem aus sie über die Stadt blicken wollen, gerät Nathanael erneut in Rage, als er Coppelius am Fuße des Turmes erblickt und stürzt sich hinunter.
Diese durchaus tragische und komplexe Geschichte wird auf etwa 40 Seiten erzählt. Hoffmann wählt, nachdem er die drei Briefe an den Anfang seiner Erzählung gesetzt hat, den auktorialen Erzählstil, mit dem er auf die Handlung blickt und den Leser direkt ansprechend das Geschehen vermittelt, vor- oder zurückgreift und die entsprechenden Verhaltensauffälligkeiten teils auch beurteilt. Hoffmann scheint dieser Erzählstil zu liegen, er verwendete ihn auch in anderen Werken, besonders sei der Goldne Topf genannt, der hier in dieser Rezension noch einige Male auftauchen wird. Zentraler Anlass für diese Erzählung soll die Auseinandersetzung mit psychisch Kranken gewesen sein, die im 19. Jahrhundert, in der die Erzählung in nur etwa vier Tagen entstanden sein soll, eine grundlegende Änderung erfuhr. Sogenannte „Irre“ galten nicht mehr als unheilbar, ihre Lage war zudem nicht vollkommen grundlos.
Hoffmann scheint mit seinem Sandmann hier eine Art psychologische Studie vollzogen zu haben, in der er sowohl den Krankheitsverlauf, den falschen Umgang der Mitmenschen aber auch die Ursachen einer solchen Krankheit und eines solchen Wahnsinns zu benennen versucht. Der frühe Tod des Vaters, die Gruselgeschichten, die man kleinen Kindern erzählt hat, um sie zu manipulieren. Die Erzählung ist an einigen Stellen wirklich spannend und wirklich gruselig, und nein, ich denke nicht, dass dies etwas ist, was dem Niveau einer Erzählung Abbruch tut, auch wenn man diese Aspekte der Erzählung heute wie damals eher belächelt hat.
Wider Erwarten war die Erzählung am Anfang auch sehr schlüssig und greifbar, verliert sich dann aber als sie das zweite, meines Erachtens überflüssige Standbein mit Olimpia aufmacht. Natürlich ziert diese zweite Handlungsebene die ansonsten etwas knapp geratene Erzählung enorm, doch verwirrt sie auch an einigen Stellen, weil die ganze Existenz eines solchen „Automaten“ für den heutigen Leser vielleicht einfach zu fantastisch sein mag. Hier wird man, während man den ersten Teil in seinen Wirren gut mit der Erkrankung Nathanaels begründen kann, dazu gezwungen, die reale Ebene zu verlassen und sich auf die Fantasie und Fiktion Hoffmanns einzulassen.
Es mag also nicht verwundern, dass man in der Literaturkritik den Werken Hoffmanns nach zwei eher verrissenen Werken nicht mehr sehr offen gegenüberstand. Deswegen sind die Zeitzeugnisse, die es zum Ersterscheinen des Sandmanns gibt, vergleichsweise dürftig.
Seine vorhergegangenen Werke, einmal einen weiteren Sammelband unter dem Titel »Fantasiestücke in Callots Manier«, aber auch »Der goldene Topf« wurden von der Literaturkritik viel beachtet aber zeitgenössisch meist nicht gelobt.
Heute gehört es zu den bedeutendsten Werken der Romantik, ist ein Paradebeispiel für das spätromantische Kunstmärchen und für den Gruselroman.
Dass der Autor natürlich nicht nur auf diese ästhetischen Komponenten anspielte, sondern in seinen Werken auch noch stets ein tieferer Sinn zu finden ist, wenn man nach ihm sucht, ergibt sich aus der intensiven Auseinandersetzung der Literaturwissenschaft mit diesem Werk.
»Der goldene Topf« erschien erstmals 1814, wurde dann fünf Jahre später noch einmal überarbeitet, doch sind die Grundelemente, die sich in dieser späteren Erzählung Hoffmanns spiegeln mit Sicherheit auch in der Urfassung zu erkennen. Der Student Anselmus und der Archivarius Lindhorst funktionieren in ihrer Paraderolle mit denselben Faktoren. Auch Anselmus steht verwirrt und verlassen im Leben, auch er wird für „toll“ oder dumm erklärt, weil er an die magische Parallelwelt glaubt. Wenn sich sein Schicksal auch anders entwickelt, scheinen mir die beiden Figuren letzten Endes doch auch recht ähnlich.
Auch der Konflikt, zwischen zwei Frauen zu stehen (Nathanael zwischen Clara und Olimpia, Anselmus wischen Veronika und Serpentina) wird nicht nur ähnlich erzählt sondern letzten Endes auch ähnlich aufgelöst. Diese und viele weitere Parallelen lassen mir das Frühwerk E.T.A. Hoffmanns nicht etwa einfallslos aber doch vergleichsweise durchschaubar erscheinen. Wenn er auch erzählerisch einige Kniffe verwendete, sind die Werke als solche nicht so wirklich voneinander zu trennen und entwickeln sich nur in wirklich eigenartigen Texten wie den »Lebensansichten des Katers Murr« oder dem »Fräulein von Scuderi« inhaltlich in eine andere Richtung.
E.T.A. Hoffmann schreibt, und das steht außer Frage, romantik-kritische Texte – vielleicht ist auch das der zentrale Aspekt, warum uns seine Bücher heute so gefallen und warum sie so wenig kitschig und aus der Zeit gefallen scheinen. Die Lektüre des Sandmanns lohnt sich auf jeden Fall, ganz abgesehen davon, dass er mittlerweile hoch oben auf den Listen der Bücher steht, die man im Laufe seines Lebens gelesen haben sollte. Er ist an manchen Stellen besser zu verstehen als andere, ausgefallenere Werke Hoffmanns, ist aber meines Erachtens auch nicht fehlerfrei. Vielleicht ist er aber gerade deshalb für die Literaturwissenschaft so unheimlich reizvoll.
Literatur:
Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann