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Samstag, 16. November 2024

»Professor Unrat« von Heinrich Mann

Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen
Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen

Mit der Geschichte vom Ende des tyrannischen Gymnasialprofessors Raat gelang Heinrich Mann bereits im Jahr 1905 eine meisterhafte Karikatur der Wilhelminischen Zeit. Ähnlich wie sein Roman »Der Untertan« gilt auch diese frühe Spießer-Satire als hellsichtige Vorwegnahme deutscher Tyrannei nach 1933. Darüber hinaus aber ist »Professor Unrat« auch einer der ersten Lehrer- und Campusromane und weist auf Meisterwerke wie Nabokovs »Lolita« oder Philip Roths »Der menschliche Makel« voraus.

Professor Raat ist ein spießiger, reaktionärer, unglücklicher, hasserfüllter Lehrer an einem Kleinstadt-Gymnasium, der dort Altgriechisch und Latein unterrichtet. Der Zeitgeschmack und die Bedürfnisser der Jugend interessieren ihn nicht. Die Jugend hasst ihn daher ebenso wie er die Jugend, die er in Wirklichkeit nicht versteht. Da er aber gegen seine Schüler Krieg führt und diese Siege gegen seine Schüler ihm Genugtuung verschaffen, er das Scheitern seiner Schüler aus gutem Hause im LeEben früh beeinflussen kann, indem er diesen schlechte Noten gibt, erhält er ein Gefühl von Macht. Professor Raat fühlt sich der Tugendhaftigkeit derart verpflichtet, dass er seine Schüler regelrecht tyrannisiert.

Alles was auch nur im Ansatz seine Autorität untergraben könnte muß im Keim erstickt werden, denn nichts fürchtet er so sehr wie Machtverlust. Selbst in ehemaligen Schülern, längst erwachsen und im Leben stehend, sieht er noch den Hang zum Aufruhr gegen ihn, obwohl diese sich seiner nurmehr verklärt erinnern. Rufen sie ihn »[…] mit seinem Namen […]« dann in beinahe wehmütiger Erinnerung an ihre Jugendzeit.

Auf drei seiner Schüler hat es Unrat besonders abgesehen, da sie in seinen Augen nur darauf aus sind Unruhe zu stiften. Ertzum, ein junger Adliger von beschränktem Geist, Kieselack, Sohn eines kleinen Hafenbeamten mit Alkoholproblemen, und Lohmann, Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns, der wahrscheinlich intelligenteste unter Unrats Schülern, obwohl seine Leistungen im Unterricht unterdurchschnittlich sind. Als die drei wieder einmal den Unterricht stören, verbannt Unrat sie ins Kabuff, einem kleinen Nebenraum, in dem die Schüler ihre Jacken und Mäntel während des Unterrichts aufbewahren. Dabei gerät ihm Lohmanns Schulheft in die Hände, in dem er einige Verse unter anderem über eine gewisse Künstlerin Fröhlich verfaßt hat. Unrat, dem Lohmanns Intelligenz suspekt ist, wittert hier seine Chance, den Schüler Lohmann zu fassen.

Unrat, der nie aus seinem üblichen Trott herausgekommen ist, täglichen den gleichen Weg geht, versucht nun herauszubekommen, um wen es sich bei dieser Frau handelt. Zuerst denkt er an eine Schauspielerin, doch beim Theater kennt sie keiner. Auf der Suche nach ihr, gerät Unrat ins Hafenviertel. Doch auch dort kann er nichts in Erfahrung bringen, eckt aber bei den einfachen Leuten an. Unrat wendet sich an den Schuhmachermeister Rindfleisch, von dem er glaubt, er könne es wissen. Rindfleisch ist Anhänger der Herrenhuter, einer religiösen Sekte, die alles Sexuelle verdammt und fest davon überzeugt ist, »[…] daß Gott es nur darum erlaubt, auf daß er in seinen Himmel oben mehr Engel kriegt […]«. Unrat verachtet innerlich die unterwürfige Frömmigkeit des Meisters, der ihm auch nicht weiterhelfen kann.

Unrat zieht es erneut ins Hafenviertel und findet endlich die Künstlerin Fröhlich in einem Lokal namens »Der Blaue Engel«. Rosa Fröhlich arbeitet dort als mittelmäßige Sängerin, ist aber durch ihre Schönheit die Attraktion des Lokals. Im Hinterzimmer, das als Künstlergarderobe genutzt, halten sich allabendlich Kieselack, Ertzum und Lohmann auf. Unrats Erscheinen vertreibt sie. Unrat, der anfangs um seine Schüler von der Künstlerin Fröhlich fernzuhalten, nun selbst jeden Abend in den »Blauen Engel« geht, knüpft langsam eine persönliche Beziehung zu Rosa Fröhlich, bis beide eine Liaison miteinander beginnen. Zwar ist es Unrat gelungen, seine Schüler und ganz besonders Lohmann vom »Blauen Engel« fernzuhalten. Aber da es für einen Mann seiner Position nicht schicklich ist, permanent in einem solchen Haus zu verkehren, entsteht eine Pattsituation zwischen ihm und den dreien – Unrat kann sie nicht mehr mit der gleichen Strenge wie früher behandeln, aber sie können auch nicht wirklich aufbegehren.

Unrats Liaison mit der Künstlerin Fröhlich wird ruchbar, die bigotten Kollegen schneiden ihn, doch kann man den unbeliebten Kollegen nicht so ohne weiteres loswerden. Das besorgt Unrat letztlich selbst als er in einem Prozeß, in dem über die Zerstörung eines Hünengrabes verhandelt, dessen Lohmann, Ertzum und Kieselack angeklagt sind, leidenschaftlich für die Künstlerin Fröhlich, die verdächtigt wird, einen der drei angestiftet zu haben, und gegen seine Schüler Partei ergreift. Die drei werden von der Schule verwiesen, aber auch Unrat ist durch seinen Auftritt untragbar geworden. Er wird in den Ruhestand versetzt.

Er heiratet Rosa Fröhlich und beginnt einen persönlichen Feldzug gegen die Kleinbürgerlichkeit seiner Heimatstadt. Er will jeden »fassen« und vernichten, der ihn Zeit seines Lebens verunglimpft hat. Noch immer sieht er in allen Schüler. Noch lebt er in der Vorstellung, daß es für einen Menschen nichts Schlimmeres gibt als von der Schule verwiesen zu werden.

Während eines Sommerurlaubs am Meer werden er und seine Frau der – durchaus zweifelhafte – gesellschaftliche Mittelpunkt. Aber weil in ihrem Gefolge angesehene Männer sind, echauffiert man sich nur hinter vorgehaltener Hand. Rosa Fröhlich erkennt, daß sie auf Männer der »besseren Gesellschaft« wirkt und beginnt das auszunutzen.

Unrat erkennt seine Möglichkeiten und nach der Rückkehr aus dem Seebad wird sein Haus nach und nach zum besonderen Mittelpunkt des verschlafenen Ortes, der bisher keine Möglichkeit zum Laster geboten hat. »[…] Es gab kein ansehnliches Varieté. Die fünf oder sechs für den Gebrauch besserer Herren abgerichteten Halbweltdamen waren zum Überdruß bekannt, und die Freuden, die sie bieten konnten, wurden einem schal gemacht durch den Gedanken an Haus Unrat und seine Hausfrau. […]« Man erzählt sich hinter vorgehaltener Hand unter anderem von Pfänderspielen, was aber mehr Gerücht als Wahrheit ist.

Die Honoratioren des Ortes gehen in Haus Unrat ein und aus, mit Ausnahme Konsul Lohmanns, der als einziger mit dem Vergnügungsmöglichkeiten der großen europäische Städten bestens vertraut ist und deshalb dieser kleinbürgerlichen Vorstellung von Vergnügen und Laster nichts abgewinnen kann.

Während Unrats zweitem Sommer im Seebad spielt Rosa Fröhlich ihre Macht, die sie über die Männer hat, bewußt aus. Ergebnis; die Braut Richters – ein ungeliebter ehemaliger Kollege Unrats – löste die Verlobung und ein ehemaliger Schüler erleidet beinahe einen tödlichen Badeunfall. Unrat triumphiert; er hat zwei weitere – Schüler – »gefaßt«.

Doch nicht nur die Männer der ersten Gesellschaft verkehren im Haus Unrat, mitunter auch deren Frauen und Töchter, so daß nach einer Reihe von Maskenfesten »[…] Bevor der Sommer anbrach, zogen drei Frauen der guten Gesellschaft und zwei junge Mädchen sich plötzlich zurück, zu einem, wie man fand, verfrühten Landaufenthalt. […]«. Die Gatten werden Opfer ihrer Spielsucht. »[…] Drei neue geschäftliche Zusammenbrüche erfolgten. Der Zigarrenhändler Meyer am Markt beging Wechselfälschungen und erhängte sich. Über Konsul Breetpoot wird gemunkelt … […]«. Breetpoots Fall, zugleich Treuhänder des jungen Ertzum, wird für Unrat zur doppelten Freude.

Das Rad dreht sich immer schneller. Unrat gelingt es, so gut wie alle seine früheren Widersacher – tatsächliche und eingebildete – zu Fall zu bringen. Doch Letztlich werden sie nur Opfer ihrer eigenen Spießigkeit und Doppelmoral.
Unrat weiß, »[…] daß die sogenannte Sittlichkeit in den meisten Fällen auf das innigste mit Dummheit verknüpft ist. […]«.
In Konsul Breetpoots junge lebenslustige Frau Dora war der Schüler Lohmann eine Zeitlang verliebt. Ihr galt seine Leidenschaft, war die Mehrzahl der Gedichte in seinem Schulheft gewidmet und nicht der Rosa Fröhlich, wie Unrat fälschlicherweise annahm.

Auf dem Höhepunkt von Unrats »Herrschaft« über die Kleinstadt kehrt Lohmann aus dem Ausland zurück, wohin ihn sein Vater nach dessen Schulverweis geschickt hat, um seine Ausbildung als Kaufmann zu vervollständigen. Lohmann ist abgeklärter geworden. Er sieht die Kleinstadt und ihre einstigen Honoratioren als das was sie sind; Provinzler. Die von ihm früher so innig verehrte Dora Breetpoot ist nur eine Kleinstadtschönheit wie Rosa Fröhlich auch nur eine Kleinstadtkokotte ist.

Rosa überredet Lohmann mit in ihr Haus zu kommen. Lohmann folgt der Einladung. Dort begegnet Lohmann Unrat. Unrat, der Rosa bereits im »Blauen Engel« den Umgang mit Lohmann verboten hat, versucht in einem Anfall von panischer Wut und Eifersucht, Rosa zu erwürgen. Lohmann geht dazwischen. Rosa flüchtet in ihr Zimmer. Unrat entdeckt die prall gefüllte Brieftasche Lohmanns auf dem Tisch, die dieser dorthin gelegt hat, um Rosa zu zeigen, daß er ohne Gegenleistung bereit wäre, sie und Unrat aus finanzieller Verlegenheit zu helfen. Unrat nimmt die Brieftasche an sich. Doch anstatt sie ihm zu entreißen, verliert Lohmann seine vermeidliche Weltgewandtheit und Toleranz. »[…] Lohmanns Geist, der durch so unglaubwürdige Erlebnisse noch nie erprobt war, warf alle Eigenart ab und antwortete auf »Verbrechen« ganz bürgerlich mit »Polizei«. Wohl bewahrte er das Bewußtsein, dies sei kein besonders seltener Fall, aber er sagte sich: »Da hört’s auf«, und schritt stramm über das Bedenken hinweg. […]«. Lohmanns Anzeige führt zur Verhaftung von Unrat und Rosa. Letzteres hat Lohmann nicht beabsichtigt. Aber die »[…] Stadt war in Jubel, weil Unrats Verhaftung beschlossen war. Endlich! Der Druck des eigenen Lasters war von ihr genommen, da die Gelegenheit dazu entfernt ward. […]«.

Heinrich Manns vermutlich bekanntester Roman erschien 1905 und ist mehr als nur die vordergründige Geschichte eines verhärmten alternden Kleinstadt-Gymnasiallehrers der in später Liebe zu einer Kleinstadtkokotte entbrennt und aus seiner gewohnt kleinbürgerlichen Bahn gerät. Unrat kennt seine Umgebung und deren Spießigkeit nur zu genau und verachtet sie in ihrer provinziellen Dummheit. Unrat ist Witwer, der eine unglückliche Ehe hinter sich hat. Sein einziger Sohn mußte die Stadt verlassen, nur weil er in nicht genehmer weiblicher Gesellschaft gesehen wurde, und von Unrats bigottem Kollegen Hübbenett diffamiert wurde. Hübbenett findet sich später wie viele andere auch unter Unrat »Opfern« wieder. Jedoch fällt es schwer von wirklichen Opfern Unrats zu sprechen. Sie werden vielmehr Opfer ihrer eigenen Kleingeistigkeit oder wie Unrat gegenüber Rosa Fröhlich formuliert: »[…] daß die sogenannte Sittlichkeit in den meisten Fällen auf das innigste mit Dummheit verknüpft ist. […]«.

Unrats Zeit versucht sich in Moral und fördert durch dieses enge Korsett nur das Laster, denn die ganze aufgezwungene vermeidliche Anständigkeit, die wider der menschlichen Natur ist und nur dazu dient, das Volk gefügig zu halten, wie Unrat seine Schüler mit vergleichbaren Methoden, muß sich irgendwann ein Ventil verschaffen. Wie ein Druckkessel, der immer stärker aufgeheizt wird, über ein Ventil Dampf ablassen muß, weil er sonst platzt.

Unrats Haus wird zu diesem Ventil. Doch da die Kleinbürger das Dampfablassen nicht gewohnt sind, werden sie in ihrem Laster genauso so maßlos wie in ihrer Sittlichkeit. Mehrere ruinieren sich im Spiel. Die nach außen hin ehrbaren Frauen und Töchter werden ungewollt schwanger, da die Sittlichkeit verhindert, daß sie Kenntnisse über Verhütung erhalten.

Unrat erfährt jedoch nicht nur Triumphe; er muß auch die Tiefen der Eifersucht durchleben, wenn Rosa mit einem anderen Mann zusammen ist, wenn auch aus keinem anderen Grund als diesen zu »fassen«. Unrat erkennt das Dilemma seiner Situation. »[…] Es steht unter allen Dingen eines fest: Daß jemand, dem die hellsten Gipfel zu erklimmen gelang – daß ein solcher auch mit den undurchdringlichen Schlünden wohlvertraut ist. […]«.

Heinrich Mann teilt seine Zeit nicht einfach in anständige Frauen und Kokotten ein. Die Frauen der »guten Gesellschaft« sind nicht besser als Rosa, vielleicht sogar schlimmer, denn bei ihnen geschieht es hinter einer verlogenen Fassade aus Anständigkeit, während Rosa es für alle sichtbar tut. Rosa Fröhlich besitzt ein Gegenstück innerhalb der »Guten Gesellschaft«: Dora Breetpoot, die zu Beginn des Romans vom jungen Lohmann heimlich verehrt wird. Und von der die ganze Stadt munkelt, daß ein Kind, das sie erwartet, entweder vom Assessor Knust oder vom Offizier von Gierschke aber auch von ihrem Mann sein könnte. Mit der späteren Erwähnung von Dora Breetpoots reicher Kinderzahl wird zugleich auf ihre zahlreichen Liebhaber verwiesen.

Heinrich Mann betont, daß die sogenannten ehrbaren Frauen sich in keiner Weise von den Kokotten unterscheiden und auch nicht anders als ihre Männer sind, die ebenfalls ihre Liebschaften haben, sei es mit Prostituierten oder mit einer Geliebten, die sie aushalten. Aber bei verheirateten Frauen wurde ein Auge zugedrückt und solange der Gatte es nicht merken wollte, nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt, wenn überhaupt.

Der junge Lohmann, den Unrat als seinen persönlichen Gegner betrachtet, obwohl Lohmann mit Unrat sogar ehrliches Mitleid empfindet, ist mehr Beobachter und Kommentator als Beteiligter, den seine heimliche Liebe zu Dora Breetpoot intensiv beschäftigt und der dabei mehrmals in jugendlicher Romantik an Selbstmord denkt. Womit Heinrich Mann auch die seelischen Nöte beschreibt, in die junge Menschen seiner Zeit zwangsläufig gerieten, weil sie ihre aufkeimende Sexualität rigoros unterdrücken mußten. Lohmanns Sympathien bleiben bei Unrat, obwohl dieser ihn bekämpft. Lohmann erkennt früh, daß Unrat in seinem tiefen Inneren ein Anarchist ist und sieht dessen Entwicklung voraus.

Doch so weltgewandt Lohmann sich selbst auch einschätzt, am Ende reagiert er ebenso kleinbürgerlich wie alle mit seiner Anzeige anstatt Unrat einfach die Brieftasche wieder abzunehmen. Jedoch bezahlt auch Lohmann einen Preis; Rosa wird ebenfalls verhaftet.

Unrat, der anfangs nüchtern berechnend seinen Mitbürgern die Maske der Ehrbarkeit vom Gesicht gerissen und finanziell davon profitiert hat, wird am Ende Opfer seiner Vernichtungsgier, denn er verliert Maß und Ziel. Selbstverständlich ist mit seinem Ende nicht gesagt, daß nicht irgendwann jemand anderer kommt und den Kleinbürgern wieder Gelegenheit zum Laster geben kann.

Unrats Verhaftung kann auch als Strafe gesehen werden, daß er sich an dem einzigen Menschen vergreift, der nie etwas gegen ihn hatte. Aber ebenso zeigt sie, daß auch Lohmanns Weltgewandtheit auch nur Fassade ist wie die Sittsamkeit der anderen. Auch darunter zeigt sich der Spießer, der Kleinbürger, wenn an seinen Grundsätzen gerüttelt wird.

Literatur:

Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen
Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen
von Heinrich Mann

Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen
Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen
von Heinrich Mann

Novelle »Der Zauberberg« vor 100 Jahren veröffentlicht

Der Zauberberg


Der Schriftsteller Thomas Mann liebte die Schweiz. Daher spielt auch seine 1924 erschienene Novelle »Der Zauberberg« in einem Sanatorium in Davos. »Der Zauberberg« schildert eine gänzlich andere - fast schon entrückte - Welt. Thomas Mann schuf ein zeitlos gültiges Bild der Zeit um den Ersten Weltkrieg.

Thomas Manns Roman Der Zauberberg begreift Davos als Sinnbild für die Träume und die Katastrophen Europas. Der Ort steht exemplarisch für die Komplexität und Zerrissenheit der Moderne und macht europäische Kulturgeschichte sichtbar.

Thomas Mann hat mit seinem berühmten Roman »Der Zauberberg« - eine Metapher für das sich unbekümmert in den Ersten Weltkrieg stürzende Europa - die legendären Sanatorien mit ihrer eleganten Art-Déco-Architektur, den Liegehallen und Sonnenterrassen, umgeben von den Gipfeln der Alpen, ein Denkmal gesetzt. Davos - ein Ort, in dem die Zeit stillzustehen scheint und wo dem Bedürfnis nach Zerstreuung mit Spaziergängen, Konzerten und Diners in prächtigen Speisesälen Rechnung getragen wird.

Der Roman »Der Zauberberg« von Thomas Mann erzählt die abenteuerliche Geschichte von Hans Castorp, einem jungen Mann einer alteingesessenen Bürgersfamilie aus dem flachen Norden Deutschlands.

Der Zauberberg Dieser Hans Castorp kommt zu Besuch auf den Zauberberg, einem Lungensanatorium auf der Schatzalp bei Davos, verschlägt es in diese Bergwelt und kommt nicht mehr weg. Denn, so wird schnell klar, dieser Zauberberg in einer abgeschotteten Bergwelt hat seine eigenen Gesetze und seine eigene Zeit, denn er ist aus der Zeit gefallen.

Früh verwaist, hat der junge Castorp gerade sein Studium als Schiffsbauingenieur beendet und fährt für drei Wochen nach Davos, um seinen Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen, der dort in dem internationalen Sanatorium "Berghof" zur Kur weilt und seine Lungenerkrankung kuriert. Wegen Anzeichen von Tuberkulose wird dieser sicherheitshalber von den Ärzten in Davos behalten.

"Wenn ich einen Wunsch für den Nachruhm meines Werkes habe, so ist es der, man möge davon sagen, dass es lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiss."


Ein kurzer Besuch in einem Davoser Sanatorium wird für den Protagonisten Hans Castorp zu einem siebenjährigen Aufenthalt, der Kurort wird zur Bühne für die europäische Befindlichkeit vor dem Ersten Weltkrieg. - Im Juli 1913 begonnen, während des Krieges durch essayistische Arbeiten, vor allem durch die »Betrachtungen eines Unpolitischen«, unterbrochen, konnte der Roman erst im Jahr 1924 abgeschlossen und veröffentlicht werden.


Inspiration zur Geschichte bekam Thomas Mann von seinem eigenen Aufenthalt in Davos. Seine Frau Katia erkrankte an Tuberkulose und reiste zur Liegekur ins Waldsanatorium Davos. Das bot Thomas Mann fundierte Berichte über das Leben im Sanatorium aus erster Hand. Geplant als Novelle, als heiteres Gegenstück zu dem ernsten »Tod in Venedig«, entstand mit dem »Zauberberg« einer der großen Romane der klassischen Moderne und zu einem der gewaltigen Werke der Weltliteratur.

Literatur:

Der Zauberberg
Der Zauberberg
von Thomas Mann

Weblinks:

Manns Zauberberg - www.davos.ch

Schatzalp - Wikipedia-org

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Literatur und die Beschreibung der Übel in der Welt

Karl Kraus war überzeugt, dass sich in jeder kleinsten Unstimmigkeit, die scheinbar eine höchstens lokal und zeitlich begrenzte Bedeutung hat, die großen Übel der Welt und der Epoche offenbaren. So konnte er in einem fehlenden Beistrich ein Symptom für jenen Zustand der Welt erblicken, der einen Weltkrieg erst möglich mache. Eines der Hauptanliegen seiner Schriften war es, mittels solcher kleiner Missstände auf die großen Übel aufmerksam zu machen.


In seinem Drama »Die letzten Tage der Menschheit« entwarf Karl Kraus ein gewaltiges Zeitpanorama des Ersten Weltkrieges, das in vielen grotesken Szenen die ganze Absurdität und Unmenschlichkeit des Kriegsgeschehens zu ermessen versucht. Dieses Antikriegsepos und Zeitpanorma ist ein furioser Augenzeugenbericht vom Untergang des alten Europa.

In seinem monströsen Weltuntergangskabarett "Die letzten Tage der Menschheit" stülpt Karl Kraus das vertraute Bild des Habsburgerreiches ins Infernalische um. Der Erste Weltkrieg erweist sich als apokalyptisches Völkergemetzel, angerichtet von bestialischen Militärs, idiotischen Beamten, zwei blödsinnigen Kaisern, einer vertrottelten Adelskaste, einer bornierten Kirche und einem gierigen Bürgertum im Verein mit einer gewaltgeilen Journaille von Kriegshetzern und Hyänen des Schlachtfelds.

»Die toten Seelen« von Nikolai Gogol

Die toten Seelen


»Die toten Seelen« ist ein Roman von Nikolai Gogol. Das Thema dieses Buches stammt eigentlich von Puschkin, der mit Gogol befreundet war und der Meinung war, daß sein Freund dieses Thema besser umsetzen könne. 1835 erklärte Puschkin Gogol den Stoff. 1841 schloss Gogol das Thema in Rom ab. Die Moskauer Zensurbehörde lehnte den Druck ab. Mit Vermittlung eines Freundes genehmigte die Sankt Petersburger Zensurbehörde die Herausgabe mit geändertem Titel.

Die Hauptperson ist ein Mann namens Tschitschikow, ein umtriebiger und schlitzohriger Mensch, der tote Seelen kauft umso reich zu werden. Immer wieder hat er Rückfälle. Mit Disziplin rafft er sich immer wieder auf und beginnt. Am Ende scheint alles verloren. Er sitzt schon im Kerker und wird wieder befreit um neu beginnen zu können. Trotz der zentralen Figur des Tschitschikow ist es nicht nur ein Roman über ihn; es wird das Leben am Land und viele Gutsbesitzer beschrieben.



Tschitschikow reist in eine Bezirkshauptstadt in der Ukraine und trifft hier Grundbesitzer, denen er leibeigene Bauern abkauft. Jedoch möchte er nur solche Bauern kaufen, die bereits verstorben sind, aber noch in den Registrierlisten aufscheinen, die nur alle 10 Jahre erneuert werden. Da die Steuer jedoch nach den Registrierlisten eingehoben wird und Tschitschikow durch den Kauf die Steuerlast der Grundbesitzer übernimmt, ist sein Motiv nicht ganz verständlich.


„Bekanntlich gibt es viele Gesichter auf der Welt, bei deren Bearbeitung sich die Natur nicht lange aufgehalten und keinerlei feine Instrumente, wie Feilen, kleine Bohrer und dergleichen, verwandt hat: sie Holte einfach mit der Axt aus, ein Schlag – und fertig war die Nase, ein zweiter Schlag - und fertig waren die Lippen, mit einem Riesenbohrer wurden die Augen gemacht, und dann hieß es: „Er lebt!“, und der Mensch wurde mit ungehobeltem Gesicht in die Welt geschickt.“

Die ausführlichen und detaillierten Erzählungen der russischen Dichter des 19. Jahrhunderts geben eine Zeit wieder, die es nicht mehr gibt. Das Wesentliche im Buch ist aber nicht die Geschichte, sondern die Beschreibung der Menschen und der Gesellschaft, die Tschitschikow hier im zaristischen Russland von 1820 antrifft. Neben menschlichen Schwächen führen die Versuchungen des aufkommenden westlichen Einflusses zu Materialismus und Kapitalimus, zu Korruption und illegalen Machenschaften.

Obwohl Gogol deutlich moralische Stellung bezieht, nimmt er seine Protagonisten in Schutz und versteht ihre Schwächen. So wendet er sich immer wieder direkt an den Leser um auch ihn zu beschwichtigen und nicht böse oder verurteilend zu sein.

Das Buch ist satirisch, ironisch geschrieben und köstlich zu lesen. Diese Ausgabe ist die erste deutsche Übersetzung aus dem Jahre 1846 und in der damaligen Sprache und Orthografie verfasst, was einen zusätzlichen Reiz beim Lesen ausmacht - ich fühlte mich in die Zeit, in der das ganze Buch spielt, versetzt.

Literatur:


Die toten Seelen
von Nikolai Gogol

Freitag, 8. November 2024

Kazuo Ishiguro 70. Geburtstag

Kazuo Ishiguro

Kazuo Ishiguro wurde am 8. November 1954 in Nagasaki geboren. Ishiguro ist ein britischer Schriftsteller japanischer Herkunft.

1960 wanderte seine Eltern aus Japan aus und er kam mit seiner Familie nach Großbritannien. Er studierte Anglistik und Philosophie, danach Kreatives Schreiben und war hauptberuflich Sozialarbeiter, bevor er sich ab 1983 rasch als freier Schriftsteller etablierte.

Kazuo Ishiguro ist ein Schriftsteller, der beides glänzend beherrscht: tiefgründig und zugleich packend zu erzählen. Er gilt als Meister der Melancholie.

Internationale Berühmtheit erlangte er durch seinen Bestseller „Was vom Tage übrig blieb“, für den er 1989 den renommierten Booker Prize erhielt und der ebenso erfolgreich verfilmt wurde wie sein 2005 veröffentlichter dystopischer Roman „Alles, was wir geben mussten“.

Nachdem Ishiguro mit seinem Debüt „Damals in Naga­saki“ beeindruckte, dem Porträt einer von späten Schuldgefühlen heimgesuchten Mutter, umfasst sein Œuvre nunmehr sieben Romane, Kurzgeschichten, daneben Drehbücher und Liedtexte.

Sein dritter und berühmtester Roman „Was vom Tage übrigblieb“ wurde 1989 mit dem Booker Prize ausgezeichnet.


Kazuo Ishiguro

Kazuo Ishiguro lebt heute in London.

Sonntag, 3. November 2024

Georg Trakl gilt als einer der bedeutendsten Dichter des Expressionismus

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/e/e3/GeorgTrakl.jpg/220px-GeorgTrakl.jpg


Georg Trakl gilt neben Gottfried Benn (1886-1956) und Georg Heym (1887-1912) als einer der bedeutendsten Dichter der literarischen Epoche des Expressionismus.

Anders als die anderen Vertreter seiner Zeit, erschuf Trakl eine eigene, tiefsinnig-depressive und chiffrenhaltige Welt, die in ihren erzeugten Bildern eine typisch "schwermütige Grundstimmung" vermittelt.

Seine Gedichte spiegeln das Genie des Dichters wieder. Sie sind ein Spiegel der Zeit und exemplarisch für die Ideen ihrer Epoche. Sie bringen das vorherrschende Gefühl der Düsternis zum Ausdruck.

Trakls Schaffen lässt sich in vier Phasen untergliedern. Die erste Phase bezieht sich auf seine Jungwerke, welche durch zwei Einflüsse stark geprägt wurden, zum einen Nietzsche und die Strömungen des Jugendstils und zum anderen der Symbolismus.

In der zweiten Schaffensphase (ca. 1909–1912) ist der expressionistische Reihungsstil, den er selbst charakterisiert als „meine bildhafte Manier, die in vier Strophenzeilen vier einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet“.

Seine späteren Werke (ca. 1912 bis 914) liegen in seiner dritten Phase, welche durch die hohe poetische Suggestivität der Bilder eine großen semantischen Offenheit erzeugt. Dieser hermetisch-abstrakte Stil und das Bestreben Eindeutiges zu verunklaren, bildet einen Individualistil.

Die letzte Phase von 1914 bis zu seinem Ableben beinhaltet viele seiner postum veröffentlichten Werke. Sie ist geprägt durch seine Kriegserfahrung und einen archaisch-apokalyptischen Tenor wie beispielsweise in den drei Werken »Im Osten«, »Klage« und »Grodek«.

Weblinks:

Georg Trakl - Leben und Werk - www.georgtrakl.at

Georg Trakl Lyrik-Portal - www.georgtrakl.at

Biografien:<

Georg Trakl
Georg Trakl von Gunnar Decker

Georg Trakl: Dichter im Jahrzehnt der Extreme
Georg Trakl: Dichter im Jahrzehnt der Extreme
von Rüdiger Görner

Samstag, 26. Oktober 2024

Phantastische Literatur


Zahlreiche Schriftsteller, die phantastische Literatur verfasst haben. Da gab es etliche interessante Einträge bei den Klassikern und Romantikern, die von Goethes Faust über Schillers Geisterseher bis zum Bettelweib von Locarno von Heinrich von Kleist und einer Reihe von Erzählungen E.T.A. Hoffmann reichten – das wäre eine weitere Artikelserie wert. Als Science Fiction-Vorläufer bzw. -Klassiker wurden immerhin Jules Verne und H. G. Wells erwähnt.

Samstag, 19. Oktober 2024

»Verklärter Herbst« von Georg Trakl




Gewaltig endet so das Jahr
mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise
gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit.
Im Kahn den blauen Fluß hinunter
wie schön sich Bild an Bildchen reiht -
das geht in Ruh und Schweigen unter.

»Verklärter Herbst« von Georg Trakl




Gedichte:

Georg Trakl - Sämtliche Gedichte

Donnerstag, 17. Oktober 2024

»Die schlesischen Weber« von Heinrich Heine


Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpreßt
Und uns wie Hunde erschießen läßt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt,
Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt -
Wir weben, wir weben!

Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht -
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch -
wir weben hinein den dreifachen Fluch -
Wir weben, wir weben!

»Die schlesischen Weber« von Heinrich Heine


Das Märchen "Hänsel und Gretel"

Hänsel und Gretel: Vorlesebuch und GeschenkbuchHänsel und Gretel: Vorlesebuch und Geschenkbuch von den Gebrüdern Grimm

"Hänsel und Gretel" gilt als das deutscheste und bekannteste aller Grimm-Märchen. In Märchen folgt der Leser den mutigen Kindern auf ihrem gefährlichen Weg durch den Wald und spürt auf, welche Alltags-, Tatsachen- und Geschichtskerne in dem Märchen verborgen sind.

Die Geschichte von "Hänsel und Gretel" beginnt mit einem Schock: Zwei Kinder werden von ihren Eltern im Wald ausgesetzt. Es herrscht große Not, eine große Teuerung und als Folge eine Hungersnot. Erfahrungen, die sich den Menschen tief ins Gedächtnis eingeprägt und sich im Märchen niedergeschlagen haben.

Das Märchen erzählt von einer Holzhackerfamilie – arm und missachtet wie viele andere in diesem einst weitverbreiteten Beruf. Menschen vom unteren Ende der sozialen Stufenleiter haben Krisen und Notzeiten naturgemäß am härtesten erfahren. Die Kinder von Holzfällern mussten mitarbeiten. Sie wussten alles über den Wald, aber Aufstieg durch Bildung – von dieser Möglichkeit waren sie weit entfernt. Überall herrschte Mangel.

Hänsel und Gretel: Vorlesebuch und Geschenkbuch Hänsel und Gretel: Vorlesebuch und Geschenkbuch von den Gebrüdern Grimm

Das Märchen erzählt von den verzweifelten Versuchen, diesem Mangel zu entkommen. So enthält jedes der Märchen-Motive Nachrichten aus der Wirklichkeit. Mit wenigen Strichen wird die Lebenswelt der Kinder skizziert. Der Wald, in den sie gehen, steht für alles Bedrohliche. Dort gibt es wilde Tiere und unbekannte Gefahren. Aber der Wald kann auch zum Zufluchtsort werden. Und in der Zeit der Romantik, die auch Jacob und Wilhelm Grimm geprägt hat, wird der Wald idealisiert zum Reich der Fantasie. Das Hexenhäuschen aus Kuchen und Zucker, die Hexe selbst und ihre Hinterlist, all das kann jedes Kind mühelos verstehen.

Das Märchen "Hänsel und Gretel" hat entschlüsselt einen historischen Kern. Die Hexen waren in Wirklichkeit einsame, alte Frauen, die am Waldrand wohnten und zum Opfer von Hexenverfolgungen wurden, die erst kurz vor der Lebenszeit der Brüder Grimm ein Ende fanden. Und dann gibt es im Märchen noch einen Schock: Die Hexe will Hänsel fressen. Gab es so etwas wirklich? Die meisten Berichte über Kannibalismus, die in den Archiven liegen, sind übertrieben, sind böse Gerüchte, die zum Beispiel während des Dreißigjährigen Krieges verbreitet wurden, um den Gegner zu verleumden oder um das eigene Elend deutlich zu machen. Aber die Angst, dass es wirklich passieren könnte, reichte oft schon aus, um die Menschen in Atem zu halten.

Ist dieses Thema zu brutal für Kinder, also ganz unangebracht im Märchen? Nein, denn Kinder können das Geschehen im Märchen aus sicherer Distanz beobachten und nacherleben. Sie lernen dabei, wie andere Kinder große Gefahren und höchste Not meistern. Am Ende gewinnen sie – wie Hänsel und Gretel – Selbstvertrauen und Sicherheit. Auch diese Art von Ermutigung gehört zur Magie der Märchen. Die Märchen-Forscherin Sabine Wienker-Piepho sagt: "Märchen sind keine Ponyhof-Geschichten. Märchen gehen richtig zur Sache, da geht es wirklich um das Allerschlimmste. Märchen gehen richtig zur Sache, da geht es wirklich um das Allerschlimmste. Aber – und das macht einen Großteil ihres Erfolges aus – in aller Regel finden sie ein gutes Ende.

Märchen:

Hänsel und Gretel: Vorlesebuch und GeschenkbuchHänsel und Gretel: Vorlesebuch und Geschenkbuch von den Gebrüdern Grimm

Grimms Märchen. Vollständige Ausgabe
Grimms Märchen. Vollständige Ausgabe

Samstag, 12. Oktober 2024

Anatole France 100. Todestag

Anatole France

Anatole France starb vor 100 Jahren am 12. Oktober 1924 in Saint-Cyr-sur-Loire. Anatole France war ein französischer Schriftsteller.

Als Autor begann er mit Lyrik im Stil der Dichter des Parnasse, in deren Kreis um Charles Leconte de Lisle er sich ab 1867 bewegte. Er betätigte sich aber früh auch als Erzähler sowie als Literaturkritiker, welcher zum Beispiel den neuen Symbolismus etwa Mallarmés oder Verlaines zunächst nicht goutierte.

Sein Durchbruch war 1881 der Roman »Le Crime de Sylvestre Bonnard, membre de l'Institut« (»Das Verbrechen Sylvestre Bonnards, Mitglied des Instituts«), der mit dem »Prix de l'Académie française« ausgezeichnet wurde, ihm Zugang zu den Pariser literarischen Salons verschaffte, u.a. dem von Mme de Caillavet, und ihm 1884 das »Kreuz der Ehrenlegion« eintrug.

Anatole France

1895 wurde France in seiner Eigenschaft als gemäßigt progressistischer Autor zum Offizier der Ehrenlegion befördert. Am 23. Januar 1896 wurde der vielseitige Literat und glänzende Stilist als Nachfolger des verstorbenen Ferdinand de Lesseps in die Académie française aufgenommen.

Am berühmtesten wurden die Romane »Die Insel der Pinguine« (»L'Île des Pingouins«), »Die Götter dürsten« (»Les dieux ont soif«) und »Die Rote Lilie (»Le Lys Rouge«).

Ersterer ist ein sarkastischer Abriss der französischen Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart, verkleidet dargestellt als die Geschichte eines fiktiven Pinguin-Reichs, wobei der Autor dessen Zukunft aufgrund der Habgier und hochmütigen Uneinsichtigkeit der „Pinguine“ sehr pessimistisch beurteilt.

Der andere Roman erzählt die Geschichte eines doktrinären Revolutionärs und dessen Mitwirkens an der blutrünstigen Schreckensherrschaft von 1793/94. Es ist ein Aufruf gegen den ideologischen und politischen Fanatismus, der das Frankreich der Zeit polarisierte.

http://literaten-welt.blogspot.de/2019/04/anatole-france-175-geburtstag.html

Die Insel der Pinguine

1921 erhielt er den Literaturnobelpreis. Von heutigen Lesern wird Anatole France vor allem als Romancier und Autor von »Die Insel der Pinguine« (»L'Île des Pingouins«), »Die Götter dürsten« (»Les dieux ont soif«) und »Die Rote Lilie (»Le Lys Rouge«) wertgeschätzt.

Zu seinem 80. Geburtstag 1924 wurde France mit Ehrungen überhäuft und bei seinem Tod noch im selben Jahr mit einem Staatsbegräbnis in Paris ausgezeichnet.

Anatole France wurde am 16. April 1844 in Paris geboren.

Literatur:

Insel der Pinguine
Insel der Pinguine
von Anatole France

Donnerstag, 10. Oktober 2024

Literaturnobelpreis 2024 für Südkoreanerin Han Kang



Der Literaturnobelpreis geht 2024 an die 1970 geborene Schriftstellerin Han Kang. Das hat die Nobelpreis-Akademie in Stockholm bekanntgegeben. Die Wahl kam für viele überraschend: Die Bestsellerautorin ist erst 53 Jahre alt. Für den Nobelpreis hochgehandelte Kandidaten wie der Japanische Autor Haruki Murakami oder die britische Schriftstellerin Margaret Atwood gingen damit erneut leer aus.

Han Kang werde für ihre "intensive poetische Prosa" ausgezeichnet, die sich mit historischen Traumata auseinandersetze und die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens aufzeige, hieß es zur Begründung des Nobelpreiskomittees. Sie verfügt über ein einzigartiges Gespür für die Zusammenhänge zwischen Körper und Seele, Lebenden und Toten", hieß es in der Begründung.

Damit geht der Nobelpreis zum ersten Mal nach Korea. Die Auszeichnung ist mit 10 Millionen Kronen dotiert und gilt als wichtigste Auszeichnung für ein literarisches Werk.

Han Kang gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen in Südkorea. Sie wurde 2016 mit dem britischen Man Booker Prize International für ihren Roman "Die Vegetarierin" ("채식주의자") ausgezeichnet, in dem sie die kafkaeske Geschichte einer Frau erzählt, die plötzlich jeden Fleischverzehr ablehnt. Darin geht es auch um das Patriarchat in Südkorea, Gewalt und Wiederstand. In ihrem Roman "Menschenwerk" ("소년 이 온다") aus dem Jahr 2014 schrieb sie über die blutige Niederschlagung der Studentenproteste 1980 in Gwangju.

Han Kang ist die Tochter des Schriftstellers Han Seung-won (Han Sŭngwon) und wurde 1970 in Gwangju geboren und wuchs in Seoul auf. Sie studierte an der Yonsei University in Seoul Koreanische Literatur. Zuerst wurde 1993 Lyrik von ihr in einem Magazin veröffentlicht. 1994 folgten erste Kurzgeschichten. Im Jahre 1999 gewann sie einen Preis für den besten koreanischen Roman, 2000 den "Preis für junge Künstler von heute" des Ministeriums für Kultur und Tourismus und schließlich 2005 den Yi-Sang-Literaturpreis.

Außerdem arbeitete sie als Journalistin für die Zeitschriften "Wasser der tiefen Quelle“, "Journal der Publikationen" und "Quelle". Ihr Werk "Die Vegetarierin" wurde 2010 verfilmt und der Kurzroman "Baby Buddha" diente als Grundlage für den Film "Scar". Derzeit lehrt Han Kreatives Schreiben am Seoul Institute of the Arts.

Han Kang ist die 18. Frau, die den Literaturnobelpreis erhält - und die erste Frau unter den bislang verkündeten Nobelpreisträgern dieses Jahres. Die Preisgala findet traditionell am 10. Dezember in Schwedens Hauptstadt Stockholm statt, dem Todestag Alfred Nobels. Der Literaturnobelpreis ist derzeit mit elf Millionen Schwedischen Kronen (aktuell rund 967.000 Euro) dotiert und wird seit 1901 vergeben. Seither wurden 117 Auszeichnungen verliehen.

Samstag, 5. Oktober 2024

»Wallenstein« von Friedrich Schiller

Wallenstein

Das historische Drama »Wallenstein« ist die gängige Bezeichnung für eine Dramen-Trilogie von Friedrich Schiller, die eine Episode aus dem Dreißigjährigen Krieg thematisiert. Der Dramatiker Schiller behandelt in dem dramatischen Werk den Niedergang des berühmten Feldherrn Albrecht von Wallenstein - wobei der Dichter sich frei an den realen historischen Ereignissen orientiert.

Schiller orientiert sich auch in diesem Stück an historischen Gegebenheiten und befasst sich hier mit dem Stoff des berühmten Feldherrn Wallenstein und seinem Niedergang, der auf dem Gipfel seiner Macht scheitert. Wallenstein wird 1634 auf Befehl des österreichischen Kaisers ermordert. Schiller spinnt um Wallenstein ein Netz von Intrigen.

Schiller schafft einen vieldeutigen, von menschlichen Schwächen zerrissenen Charakter im Spannungsfeld zwischen Pflichterfüllung und Rebellion. Das dramatische Gedicht wendet sich auch gegen den Krieg, in dem Zivilisten von Söldnern geplündert und geschunden werden und elendig verhungern, weil der Krieg den Krieg ernährt.

Die Trilogie »Wallenstein« von Friedrich Schiller besteht aus den Werken »Wallensteins Lager«, »Die Piccolomini« und »Wallensteins Tod«. Schiller selbst hatte den »Wallenstein« auch in »Wallenstein I« mit »Wallensteins Lager« und »Die Piccolomini« und »Wallenstein II« mit »Wallensteins Tod« unterteilt.

Die Trilogie wurde 1799 fertiggestellt. Schiller hatte etwa zehn Jahre an dem Stoff gearbeitet. Das Stück wird der »Weimarer Klassik« zugeordnet.

Dreißigjähriger Krieg



»Zerfallen sehen wir in diesen Tagen
Die alte feste Form, die einst vor hundert
Und fünfzig Jahren ein willkommner Friede
Europens Reichen gab, die teure Frucht
Von dreißig jammervollen Kriegesjahren.
Noch einmal laßt des Dichters Phantasie
Die düstre Zeit an euch vorüberführen,
Und blicket froher in die Gegenwart
Und in der Zukunft hoffnungsreiche Ferne.«

Friedrich Schiller, Wallenstein, Prolog


Schillers berühmtes Historiendrama »Wallenstein« ist in den Jahren 1796/99 entstanden, der Erstdruck erschien bei dem Verleger Cotta in Tübingen 1800.

Wallenstein:

Wallenstein
Wallenstein
von Friedrich Schiller

Montag, 23. September 2024

Per Olov Enquist 90. Geburtstag

Per Olov Enquist

Per Olov Enquist wurde vor 90 Jahren am 23. September 1934 in Hjoggböle, Gemeinde Skellefteå, geboren. Enquist ist ein schwedischer Schriftsteller und Journalist und zweifelsohne einer der großen schwedischen Autoren der Neuzeit. Der Schriftsteller gehört einer Generation genialer schwedischer Schriftsteller an, zu der auch Torgny Lindgren, Sara Lidman und Kerstin Ekman gehören, welche alle in den 1930er Jahren in Nordschweden zur Welt gekommen sind und bis auf Ekman  alle aus der nordschwedischen Provinz Västerbotten stammen.

Im Laufe seines Lebens hat er eine Vielzahl von international erfolgreichen Werken geschaffen.

Enquist ist der Sohn einer strenggläubigen Volksschullehrerin, der in einem Dorf im nördlichen Schweden aufwuchs, die Grenzen der Provinz überwand und zu einem der bedeutendsten europäischen Schriftsteller wurde. Seine Karriere begann mit dem Studium in Uppsala, settze sich mit der Zeit als Journalist in West-Berlin und München fort und führte ihn mit seinem ersten Theaterstück bis zum Broadway.

»Wenn alles so gut ging, wie konnte es dann so schlimm kommen?« steht als Leitfrage über diesem Lebensweg, der tief in die Alkoholabhängigkeit führte, bis Enquist sich mit seinen großen Romanen aus der Krise schrieb und sich schreibend quasi neu erschaffen hat. Enquist schrieb Romane und Erzählungen, Theaterstücke, Essays und Kinderbücher. Sein Schreiben begann unter dem Einfluss des französischen Nouveau Roman. Enquist debütierte im Herbst 1961 mit dem Roman »Kristallögat«.Immer hat "P.O." in seinen Büchern auch sein eigenes Erleben verarbeitet.

Der schwedische Autor arbeitete als Theater- und Literaturkritiker und zählt zu den bedeutendsten Autoren Europas. Für seinen international erfolgreichen Roman »Der Besuch des Leibarztes« wurde er u.a. in Leipzig mit dem »Deutschen Bücherpreis 2002« ausgezeichnet.

Weblinks:

Västerbotten - Wikipedia


Literatur:

Ein anderes Leben von Per Olov Enquist

Gedanken zu Herbst

Parkbank in der Herbstsonne

Ein Herbsttag ist ein sinnliches Ereignis, denn die Natur legt ihr Kleid ab und verwandelt sich in eine stille .
Immer wieder besungen von Dichtern. Kein Wunder also, daß die Poeten in dieser Jahreszeit ihre besten Gedichte schreiben.

Der Herbst ist die Zeit der Reife und der Ernte, in der die reifen Früchte vom Baum fallen. Die Natur legt ihr Kleid ab.
Diese kühle Jahreszeit ist eine Zeit des Überganges, in der die Sonne mühsam den Schleier des Nebels zerreißt, der auf dem Land liegt.
Die tiefer stehenden Sonne lässt das goldene Herbstlicht entstehen.

Der Herbst legte sich mit seinem bunten Farbenspiel auf die Landschaft. Die Natur zeigte sich verschwenderisch in der Pracht all ihrer Farben. Sie begann nun, ihre Früchte auszuschütten. Ein Früchteteppich überzog den Boden des Waldes.

Im Zusammenhang mit der tief stehenden Sonne entsteht das goldene Herbstlicht.
Das farbenprächtige Naturschauspiel kündigt aber schon langsam den Übergang von Herbst zum Winter an.

Wenn die Tage deutlich kürzer werden und die Temperaturen allmählich sinken, tritt ein farbenprächtiges Naturschauspiel auf.
Im Goldenen Oktober ist mit der Laubfärbung der Bäume der Höhepunkt des Herbstes erreicht.

Der Herbst hatte Einzug in der Natur gehalten. Diese Zeit war ein Abschied. Die Kraft der Natur lässt nach und alles richtet sich auf den nahenden Winter ein. Der Wind trieb sein Spiel mit den Blättern, wehte das Laub von den Bäumen und wirbelte es umher bevor es zu Boden fiel.

Samstag, 14. September 2024

»Der Nachsommer« von Adalbert Stifter

Der Nachsommer

Der Nachsommer

»Der Nachsommer« mit dem Untertitel »Eine Erzählung (1857)« ist ein zwischen 1847 und 1857 entstandener Roman in drei Bänden von Adalbert Stifter. »Der Nachsommer«, Stifters vielleicht bekannteste Schöpfung, zählt gehört zu den großen Bildungsromanen des 19. Jahrhunderts. Im Stil des Biedermeier erzählt der Entwicklungsroman die Lebens- und Familiengeschichte seines Protagonisten, der im Verlauf des Buches zu einem reifen Mann wird.

Es gibt Romane, die sind wie eine nacherzählte Lebensgeschichte, welche das eigene Leben im milden Licht eines geglückteren Entwurfes erscheinen läßt. Der »Nachsommer« ist eine literarische Annäherung an Adalbert Stifter. Mit seiner durch und durch autobiografischen Grundierung ist das Werk an Stifters Leben entlanggeschrieben und vergegenwärtigt dieses Leben. Es ist der idealisierte Entwurf eines geglückten Lebens und zugleich auch die Korrektur von Stifters eigener Geschichte. Nachdem es das erste und eigentliche Mal ganz anders war, liefert der Autor, der ein Dichter und Träumer war, gewissermaßen die verbesserte Ausgabe. Dieses Mal glückt alles. Also kein vaterloses, gefährdetes Leben, gefolgt von einem lebnslänglichen Chaos wie bie Stifter, sondern eben ein Leben, das man ein glückliches nennen kann.

Ein junger Naturforscher bittet in einem abgelegenen, über und über mit Rosen bedeckten Landhaus um Unterschlupf vor einem drohenden Gewitter. Er wird von dem älteren Hausbesitzer freundlich aufgenommen, kehrt auf seinen Reisen immer wieder dorthin zurück und heiratet schließlich die Ziehtochter seines Gastfreundes. Mit diesen Sätzen wären die knapp 800 Seiten von Stifters „Nachsommer” schon so gut wie vollständig zusammengefasst.

Der Nachsommer
Der Nachsommer

Die Handlung dreht sich um die verschieden gearteten Leben zweier Paare, wobei das jüngere von beiden in Glück und frischer Liebe schwebt, das ältere hingegen durch seine Seelenreife und gemeinsamen Erlebnisse andere Empfindungen der Zufriedenheit verspürt - gewissermaßen einen Nachsommer ihrer Liebe durchlebt. Dabei gelingt es der jungen Beziehung, von den Erfahrungen des älteren Paares zu lernen und zu profitieren.

Zwei liebende Paare stehen im Vordergrund dieses warmherzigen Romans: Das jüngere beschließt nach schüchterner Annäherung schließlich zu heiraten, das ältere erlebt eine späte Liebe »in Glück und Stetigkeit, gleichsam einen Nachsommer ohne vorhergegangenen Sommer.«

Adalbert Stifter

Entschleunigung ist der Schlüssel zu diesem Buch. Wer dieses Tempo nicht annehmen kann oder mag, dem muss »Der Nachsommer« als Krönung der Langeweile erscheinen. Allerdings entgeht diesem Leser dann auch ein Kunstwerk des humanen Entwicklungs- und Bildungsideals, welches eben die Seele des Werkes ist.

Natürlich ist dieses Bildungsideal in der jetzigen Welt, in der Bildung rein marktwirtschaftlich wettbewerblich verstanden wird und nicht die Entfaltung und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zum Zweck hat, so weit außerhalb unseres Radars, dass dieses Buch heute wohl kaum noch die Leser findet, die es verdient.

Der Entwicklungsroman ist an der Biografie seines Autors entlanggeschrieben. Er ist ein idealisierter Gegenentwurf zu seinem tatsächlichen Leben.

»Der Nachsommer« wurde gerade von Schriftstellern bewundert und geliebt. Die Bewunderer Stifters unter den Lesern, die selbst schreiben, sind und waren zahlreich. Schließlich geht es hier um die Sprache als seine Weise der Vergegenwärtigung der Welt.

Stifters Nachsommer ist kein schlechtes Werk, doch ist es wahrlich nur für sehr geduldige Leser geeignet. Ich mag Bildungsromane, die meist durch eine gewissen Stille geprägt sind. Mögen die ersten paar hundert Seiten des Nachsommers noch ansprechend sein, aber irgendwann wirkt das Werk einfach zu übertrieben. Die Atmosphäre, die Sanftheit, die Naturbeschreibungen sind ansprechend.

Die immer wiederkehrende Beschreibung unwesentlicher Details, die endlosen Monologe über Kunst, Kultur und Politik sowie das vollständige Ausbleiben von Handlungsfortschritten waren mir irgendwann zu viel. Man hat den Eindruck, Stifter versuchte hier krampfhaft, seine gesamte Weltsicht en detail in einen Roman zu pressen. So entstand aber ein Missverhältnis zwischen der mangelnden Handlung und dem Übermaß an Darlegung der Weltanschauung.

Wie heisst es so schön: "Ein Klassiker ist ein Buch, das jeder lobt und niemand liest.", sagte Mark Twain einmal.
Dieses Buch ist ein Klassiker und verdient es, nicht nur gelobt, sondern auch gelesen zu werden.
In der Tat macht es der Autor dem Leser nicht leicht, in erster Linie deswegen, weil man zur Lektüre braucht, was vielen in der heutigen Zeit abgeht, Zeit und Muße. Wie jedes große Kunstwerk erschließt sich das Buch nicht sofort und nicht beim flüchtigen Lesen.

Literatur:

Der Nachsommer


Der Nachsommer von Adalbert Stifter - Gebundene Ausgabe - 1. Januar 2007

"Mein Name sei Gantenbein" von Max Frisch - ein Spiel mit der Identität


Max Frisch

In seinem Roman "Mein Name sei Gantenbein" wendet sich Max Frisch seinem Thema der Identitätsfindung zu. In "Mein Name sei Gantenbein" spielt er virtuos mit Rollen und Personen auf der Meta-Ebene.

Frisch lässt die Hauptfigur sich in immer wieder verschiedene Situationen hineindenken, ohne daß der Roman eine wirkliche Handlung hätte.

Bitter die Ironie, daß Gantenbein erst zum glücklichen Menschen wird, nachdem er der Welt vorspielt, blind zu sein und so zu tun, als sähe er deren Fehler nicht.

Mein Name sei Gantenbein

Ist ein imaginiertes Leben denkbar - ist der Mensch gar Meister seiner selbst, frei entscheidender Erzähler seines Lebens? Gewisse Lifestyle-Bücher mögen es in teils amerikanischer Manier einfach behaupten; Max Frisch macht die Probe aufs Exempel. Gantenbein ist nur eine der Identitäten des Autors. Blind ist er scheinbar, um die anderen besser zu beobachten. Die Handlung verdient den Namen kaum; komplex geht es zu, doch zieht Frisch den Leser immer mehr in den Bann.

Frisch setzt sich in diesem Roman vermutlich stärker und deutlicher als zuvor mit dem Problem der Identitätsfindung auseinander: indem das erzählende Ich verschiedene Situationen als einer der drei Protagonisten ,,durchspielt", sucht es nach seiner eigenen Identität. Dabei findet es besonders Gefallen an Gantenbein, deshalb der Titel. Gantenbein ist in der Lage seine Rolle zu wechseln, sein Spiel mit der Gesellschaft hat Erfolg.

Max Frisch führt in "Mein Name sei Gantenbein" die Brüchigkeit menschlicher Identität vor. Das geht so weit, dass er seine Personen im Roman immer wieder neu erfindet. Der Erzähler selbst tritt in das Geschehen ein, überlegt sich, welche Rolle er annehmen will, und spielt mit der Identität der anderen Personen. Erzählung und Erzähler, Geschichte und Wirklichkeit, wahres und falsches Ich fließen auf verwirrende Art ineinander.

In keinem anderen Roman hat Max Frisch das Spiel mit der ldentität, die Frage: Was wäre, wenn ...?, mit solch leichter Hand durchgespielt wie in dem Roman "Mein Name sei Gantenbein".

Der Ich-Erzähler erfindet sich neu, nachdem er von seiner Frau verlassen wurde - er wird zum (scheinbar) blinden Theo Gantenbein. Eine besondere ldentität Wunderbar beschreibt Frisch, wie ungeniert sich Menschen benehmen, wenn sie glauben, das Gegenüber sähe sie nicht.

Eine nette Pointe: Der "blinde" Gantenbein verblüfft die Umwelt mit der Fähigkeit, bei Tisch Fische zu zerlegen. Trotzdem ein nachdenklich stimmendes Buch.

Literatur:

Mein Name sei Gantenbein

Mein Name sei Gantenbein

Der historische Roman und die Realität

Mehr als jede andere Gattung muss sich der historische Roman seit jeher, in diesem Fall also seit gut zweihundert Jahren, mit der Frage herumschlagen, wie er es denn jeweils mit der Realität hält - mit dem, was wir von der Epoche insgesamt und von den Ereignissen konkret zu wissen glauben, von denen er erzählt oder die den Hintergrund seiner Handlung bilden. Populär wurde die Gattung mit den Romanen Walter Scotts, mit "Waverley" (1814) und "Ivanhoe" (1820), und geprägt sind diese Werke von einer großen Liebe des Autors zu exakt umrissenen Schauplätzen und historisch verorteten Handlungen.

"Ivanhoe" etwa beginnt mit: "Des glücklichen Englands lieblicher Bezirk, durch den der Fluss Don seine Wasser führt, trug in alten Zeiten mächtigen Wald, der mehr als die Hälfte der anmutigen Täler und Hügel zwischen Sheffield und dem freundlichen Städtchen Doncaster bedeckte", dann folgt der Hinweis auf den "Zeitabschnitt gegen Ende der Regierung Richards I., da seine im Joch der Unterdrückung schier verzweifelnden Untertanen des Königs Rückkehr aus langer Gefangenschaft heiß ersehnten, doch kaum erhofften".

Alles soll stimmen, alles soll Wirklichkeit und aus den Quellen belegt sein, und schon der frühe deutsche "Ivanhoe"-Übersetzer Karl Immermann klagte über Faktenhuberei, "müßige historische Expositionen und übel angebrachte Gelehrsamkeit", denn Scott sei "halb Historiker, halb Poet, diese Spaltung wirkt erkältend auf sein bildendes Vermögen". Immermanns Frage nach dem Verhältnis von Welt und Dichtung ließe sich jedenfalls an unsere Gegenwartsliteratur mit dem gleichen Recht, vielleicht sogar noch etwas dringlicher stellen.

Gerade in Deutschland machte Scotts Beispiel Schule, aber natürlich wirkte auch die Kritik daran nach. So betonen umgekehrt die Autoren heutiger historischer Romane gern ihre Zeitgenossenschaft durch gezielte Anachronismen oder Verweise auf die Gegenwart, indem sie ihre Protagonisten ausgesprochen modern denken und argumentieren lassen. Oder sie nutzen die Freiheit des Romanciers noch sehr viel weitergehend.

Am schönsten bringt das der englische Autor Lawrence Norfolk auf den Punkt. Im Nachwort zu seinem 1991 erschienenen Roman "Lemprière's Wörterbuch" erläutert er, dass ein Geranientopf, der in seinem Roman an einem bestimmten Moment in einer bestimmten Straße vom Fensterbrett fällt, selbstverständlich authentisch sei. Zugleich ist sein oberirdisch so überkorrekt reproduziertes London auf einem gigantischen Saurierskelett errichtet, das den gesamten Untergrund der Stadt ausfüllt.


»Des Luftschiffers Gianozzos Seebuch« von Jean Paul


Es ist ein Reisebericht, in dem der Luftschiffer, Jean Paul als dessen Sprachrohr, die Montgolfiere aufsteigen lässt, zu fantastischen, skurrilen Ausflügen über Deutschland, bis in die Schweiz und die Schweizer Berge. Dabei schaut Giannozzo, über den Dingen schwebend, jedoch noch nah genug, um alles Wesentliche zu sehen, mit einem spöttischen, höhnischen, teilweise auch beseelten, ja extrem sentimentalen Blick auf seine Zeitgenossen und karikiert den damaligen kleinbürgerlichen, ich-bezogenen Zeitgeist.


Die Luftschiffausflüge entstehen in der Imagination und sind Zeugnis dafür, dass der Autor sowohl unter der Betrachtungsweise, Metaphorik als auch Mystik, seiner Zeit weit voraus war. Jean Paul erweist sich darüber hinaus auch in diesem Werk wieder einmal als ganz genialer Sprachschöpfer, als Meister des ironischen, satirischen und humoristischen Sprachstils.

»Noch sonnen die goldgrünen Alpen ihre Brust, und herrlich arbeiten die Lichter und die Nächte in den aufeinander geworfenen Welten der Schweiz durcheinander; Städte sind unter Wolken, Gletscher voll Glut, Abgründe voll Dampf, Wälder finster, und Blitze, Abendstrahlen, Schnee, Tropfen, Wolken, Regenbogen bewohnen zugleich den unendlichen Kreis.«


»Des Luftschiffers Gianozzos Seebuch«, Jean Paul (1803)

Jean Paul kennt drei Wege, glücklicher zu werden: »Der erste, der in die Höhe geht, ist: so weit über das Gewölke des Lebens hinauszudringen, der zweite ist: gerade herabzufallen ins Gärtchen und da sich so einheimisch in eine Furche einzunisten, der dritte endlich ist der, mit den beiden andern zu wechseln.« Für den ersten Weg entscheidet sich Giannozzo, der sich mit seinem Luftschiff über die Erde erhebt und den Jean Paul einem Freund gegenüber als sein Sprachrohr bezeichnete.


Des Luftschiffers Gianozzos Seebuch

Der Luftschiffer Giannozzo schwebt über den Dingen, im wörtlichen, nicht im übertragenen Sinne. Er sieht die Welt aus einer Perspektive, die anderen verschlossen bleibt, nämlich von oben - und dabei zum Beispiel den Herrn Zensor bei außerehelichen Anbahnungen. Er nimmt regen Anteil - gerne auch als Sensation und Hauptperson - an den schalen Vergnügungen der Gesellschaft in Deutschlands Duodezfürstentümern – und hat meistens der Vorteil der uneinholbaren Flucht, wenn er es zu toll getrieben hat.

Jean Paul, 1763 geboren und 1825, gestorben steht literarisch gesehen zwischen Klassizismus und Romantik und spiegelt in seinen Werken das gesamte weltanschauliche Spektrum seiner Zeit wieder. Er war ein sehr eigenwilliger und extrem sentimentaler Autor, ein Zeitgenosse Goethes, aber sein Verhältnis zu Goethe und Schiller war immer ambivalent. Jean Paul interessierte sich für andere Wissenschaften, darunter vor allem für die Astronomie. Letzteres brachte ihm häufig den Ruf ein, er sei ein Träumer und Phantast.

Zwischen klassischem Ernst und romantischer Ironie zeichnen sich seine Werke vor allem dadurch aus, dass er mit geistreicher Ironie, in einem Potpourri von wohlwollendem Humor und beißender Satire, auch Gesellschaftskritik fokussierte, wie in dem Klassiker »Des Luftschiffers Gianozzos Seebuch«. Der nicht leicht zu lesende Klassiker, 1801 geschrieben, 1803 erschienen,, ist eigentlich ein „ komischer Anhang“ ,so Jean Paul, zu seinem 900 seitigen Kardinal- und Kapitalroman »Titan«. Die bildreiche und für die damalige Zeit sehr witzige Sprache aus dem Werk »Titan« findet sich in wesentlichen Fragmenten auch in diesem „Anhang“ wieder.

Literatur:


Des Luftschiffers Gianozzos Seebuch
von Jean Paul

»Der Kanon. Die deutsche Literatur« von Marcel Reich-Ranicki (E)

Der Kanon. Die deutsche Literatur. Roman
Der Kanon. Die deutsche Literatur. Romane

Marcel Reich-Ranicki führt in die deutsche Literatur ein. Zumindest zur klassischen, zur kanonisierten. Gipflelzone in des Literaturpapstes Romangebirge. Der Kanon enthält 20 Titel von 1774 bis 1984.

Folgen wir also der Schopenhauer´schen Devise:

Vom Schlechten kann man nie zu wenig, und das Gute nie zu oft lesen.

Arthur Schopenhauer


Literatur:

Der Kanon. Die deutsche Literatur. Roman
Der Kanon. Die deutsche Literatur. Romane
von Marcel Reich-Ranicki

Samstag, 7. September 2024

»Radetzkymarsch« von Joseph Roth

Radetzkymarsch
Radetzkymarsch


Niemand hat das versunkene Habsburgerreich mit zärtlicherer Sympathie wie eine rückwärtsgewandte Utopie mythisiert als Joseph Roth (1894 bis 1939), der große Erzähler, Trinker und Monarchist aus dem Kronland Galizien. Seine Romane »Radetzkymarsch« (1932) und »Die Kapuzinergruft« (1938) halten eine delikate Balance zwischen tragischer Ironie und Sentimentalität, sie schweben zwischen Zerrbild und Musterbild.

»Radetzkymarsch« von Joseph Roth ist ein Marsch des Abgesangs der Donaumonarchie. Mit seinem Roman »Radetzkymarsch« gelangte Joseph Roth zu internationalem Ruhm. Roth zeichent drain die Veränderungen in der Habsburger Monarchie beginennd mit der Schlacht von Solferino 1865 bis zum Ende nach.

Mit Leib und Seele ist der feinfühlige Offizier Carl Joseph Trotta ein Kind Österreich-Ungarns: Der Großvater, der als Soldat dem damals noch jungen Franz Joseph I. das Leben rettete, ziert als 'Held von Solferino' die Geschichtsbücher, der Vater steht als Beamter ganz im Dienst des Kaiserreichs.

Während die einst mächtige Donaumonarchie ihren schleichenden Niedergang erlebt, keimen in dem Sohn Schwermut und Schuldgefühle. Joseph Roths kunstvoll-melancholischer Roman von 1932 zählt wegen seiner stilistischen Brillanz zu den Glanzstücken der europäischen Literatur.

Bei Roth vollzieht sich das Schicksal des Beamten- und Offiziers-Clans derer von Trotta übrigens parallel zum Untergang der Monarchie: Bezirkshauptmann Franz von Trotta, ein treuer Staatsdiener, der seinem Kaiser bis hin zur Backenbartmode untertänigst nacheifert, stirbt nicht zufällig am Tag der Beisetzung Franz Josephs im Jahr 1916.

Ein sehr schöner Klassiker, der die Zeiten des alten Österreichs noch einmal aufleben lässt und anhand der sehr schön gestalteten Charaktere ein tolles Sittengemälde von damals wiedergibt.

Roth, das nomadisierende Chamäleon, unterlag dabei zahlreichen Wendungen in seinem Leben: Er begann als Gefühlssozialist und endete als kakanischer Monarchist, ja Legitimist: Die Unantastbarkeit des habsburgischen Geschlechts stand für ihn außer Frage.

Literatur:

Radetzkymarsch


Radetzkymarsch von Joseph Roth

Mittwoch, 4. September 2024

Erzählkunst des Joseph Roth

Joseph Roth


Joseph Roth war ein in Gallizien geborener bekannter österreichischer Schriftsteller, Erzähler und Journalist des 20. Jahrhunderts. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Erzähler. Roth war ein Schiffbrüchiger, ein Gestrandeter.

Joseph Roth (1894-1939) gilt manchen als ein Wunderrabbi im Kleid des Gentlemans, der mit dem Alphabet heilen konnte, anderen als schiffbrüchiger österreichisch-ungarischer Monarchist, der seinen Kummer über den Niedergang der Habsburger in Hektolitern Alkohol ersäufte. Selbst charakterisierte sich der galizische Jude, österreichische Dichter und katholische Trinker Roth als »böse, besoffen, aber gescheit« und traf damit wohl ins Schwarze.

Roth war - mit einem gern gebrauchten Wort - ein Dichter des Heimwehs, nicht der Heimat. „Ich habe keine Heimat, wenn ich von der Tatsache absehe, dass ich in mir selbst zu Hause bin und mich bei mir heimisch fühle“, bekannte er in einem Brief. Der erste Teil dieses Satzes war seine ewige Klage, der zweite eine glatte Lüge. Zerrissener als Roth improvisierte kein Schriftsteller sein Leben zwischen Starjournalismus und Dauersuff.

Joseph Roth


Roth, dessen Texte zum Feinsten zählen, was die deutsche Literaturgeschichte zu bieten hat, wurde durch seine Romane »Hiob«, »Radetzkymarsch« und »Kapuzinergruft« berühmt. In der Vor-Hitler-Zeit war er einer der bestbezahlten Zeitungsschreiber Deutschlands, im Exil galt er als einer der kompromisslosesten Gegner des Nazi-Terrors. Doch die politische Entwicklung gab ihm den Rest und machte aus einem fröhlichen Zecher einen zerrütteten Alkoholiker. Schluck für Schluck beging er Selbstmord und verbrannte wie ein bengalisches Feuerwerk. Ein jetzt vorliegender Band mit seinen gesammelten Erzählungen lädt ein, sich mit Joseph Roth zu beschäftigen.

Die Erzählungen
Die Erzählungen


Die scharfe Beobachtungsgabe und minutiöse Prosa, die seine Romane und Feuilletons auszeichnen, lassen sich auch in seinen kunstvollen Erzählungen bewundern. Als »eine der schönsten Legenden, die im 20. Jahrhundert gedichtet wurde« (Marcel Reich-Ranicki) hinterließ Roth »Die Legende vom heiligen Trinker«, die kurz vor seinem Tod entstand.

Der chronologische Aufbau der zwischen 1916 und 1939 entstandenen Erzählungen vermittelt ein genaues Bild von der literarischen Entwicklung Joseph Roths: Der Bogen seiner Erzählkunst spannt sich vom Frühwerk Der Vorzugsschüler über »Die Legende vom heiligen Trinker«, »eine der schönsten Legenden, die im 20. Jahrhundert gedichtet wurde« (Marcel Reich-Ranicki), zur Novelle »Der Leviathan«, Roths letzter gleichnishafter Erzählung vom Korallenhändler Nissen Pizenik.

»Es gibt Dinge, die muss man vergessen. Sie sind zu schön, um wirklich zu sein.«

Joseph Roth »Die Legende vom heiligen Trinker«


Joseph Roth erzählt lauter alltägliche Geschichten, bevölkert von lauter traurigen Figuren, die lauter unglückliche Schicksale haben. Wie er diese Verliebten und Sonderlinge, diese Schmuggler und Rittmeister, Huren und Eisenbahner, Briefträger und Lehrer mit leichter Hand in unvergessliche Figuren verwandelt, grenzt an Zauberei und ist doch nichts als große Literatur.

Roth war ein Schriftsteller, der seine Heimat und auch seine Sprache verloren hatte. Joseph Roth starb vor 80 Jahren am 27. Mai 1939 an seinen Pariser Exil.


Sämtliche Erzählungen des »größten Schriftstellers, den Österreich je hervorgebracht hat« :

Die Erzählungen


Die Erzählungen von Joseph Roth