»Rock, Rinder und die Posaunen der Poesie« von Frank Witzel spielt im ländlichen Hessen und erzählt eine Geschichte von Jugendlichen und ihrer Entwicklung auf dem Lande in einer sich verändernden Umwelt. Im Roman »Rock, Rinder und die Posaunen der Poesie« erinnert sich der Feuilletonredakteur Friedrich an die Zeit, als er als Neunzehnjähriger Anfang der achtziger Jahre seine alle bisherigen Kategorien sprengende, große Liebe Lena kennengelernt hat. In einer bilderreichen, anarchisch-wilden Sprache schildert er den Dauerrausch ihrer Verliebtheit. Darüber hinaus schreibt er über sein geborgenes und abenteuerliches, aber auch spannungsreiches Leben auf dem Land in Hessen.
Im Fokus stehen dabei die Erlebnisse Friedrichs mit seinen Freunden Herbert, Norbert, Kunz und Holger und ihre Verwandlung von braven Schülern zu poetischen, obsessiv nach dem Sinn des Lebens suchenden und subversiven Landhippies, die ungebärdig gegen fast alles und jeden aus der Erwachsenenwelt revoltieren. Eine wichtige Rolle dabei spielt die seelische Befreiung und die Anstiftung zum intensiven Leben durch die Rock- und Folkmusik der Gegenkultur. Auch die Freiheit und Respektlosigkeit der Literatur, der Kunst (Vincent van Gogh) und der modernen Theologie wie auch der Philosophie haben Friedrich und seinen Freunden den Mut zum Protest gegen das erstarrte Bestehende gegeben und sie zu einem freien Leben im Einklang mit ihrer Persönlichkeit und also zu einem ungestüm-poetischen Leben inspiriert.
Friedrtich erfährt auf einem Schulfest, dass die junge Frau, in die er verliebt ist, auch ihm gegenüber nicht gleichgültig ist. So ließe sich die ‚Kernhandlung‘ zusammenfassen. Aber um diesen ‚Plot‘ herum rankt sich auf mehr als fünfhundert Seiten das Lebensgefühl einer Gruppe von Jugendlichen auf dem Land(in der Nähe von Bad Hersfeld) in den siebziger, Anfang der achtziger Jahre. Subversion wird angestrebt: auf der Grundlage von Rockmusik- und Hippie Ideologie und zum Teil auch der Lektüre von Hermann Hesse, Franz Kafka, Georg Trakl, Sören Kierkegaard u.a.
Die Gesellschaftsveränderung wird nicht nur in die Zukunft projiziert sondern geschieht bereits im Hier und Jetzt und zwar zunächst einmal, indem sich der Blick auf die Welt ändert. Sie geschieht in Zusammenkünften, im Szene-Café der Kleinstadt, bei der gemeinschaftlich durchgeführten Ernte, bei Rock Konzerten, bei Diskussionsrunden
Gut nachvollziehbar die individuelle Befreiung des Protagonisten von gesellschaftlichen Strukturen, in denen jeder Ansatz von unmittelbarer Lebensfreude durch die Allgegenwart des Leistungsprinzips überlagert wird. Gut nachvollziehbar auch die Auseinandersetzung mit der als rigide und angstgesteuert empfundenen Gläubigkeit evangelikaler Kirchenkreise, die das Denken des Jugendlichen zunächst bestimmte.
Die ‚metaphernsatte‘ Sprache, der Sprachduktus, die zum Teil assoziative Gedankenführung sind Ausdruck für die Subversion des Bestehenden. Das Zusammengehen formaler und inhaltlicher Elemente scheint mir besonders gelungen. Erreicht wird der Eindruck hoher Authentizität bei der Darstellung von Zuständen und Gegebenheiten.
Friedrich, das ist Witzels Alter Ego, schwimmt, wie sich das für einen Entwicklungsroman gehört, im Meer seiner Möglichkeiten, auf unspektakuläre Weise. Die literarische Globalisierung – die Welt als Dorf, mit ständig wechselnden Schauplätzen – findet in diesem Roman nicht statt. Schauplatz ist die hessische Provinz, Vogelsberg statt Mount Everest, und dort stellt sich unser Held den Herausforderungen, mit denen alle in seinem Alter konfrontiert werden, von der ersten Liebe über die Glaubenskrise bis zum Generationenkonflikt.
Das Substrat ist die Verwurzelung des Protagonisten mit der Natur, mit der Mittelgebirgslandschaft, und da Natur und Heimat Konnotationen aufweisen, die sie in die Nähe eines Tabus rücken, darf man dem Autoren attestieren, dass seine Naturliebe auf betörende Weise schamlos ist. Dieses erdige, unschuldige, tatkräftige Aroma, das der Roman verströmt, ist wahrlich eine Erholung, wenn man sich von der Clit-Lit einer Charlotte Roche hat anwidern lassen und der Prostataliteratur der alten Männer - Philipp Roth, John Updike, Richard Ford, Joseph Heller, um nur einige zu nennen - ungeachtet ihrer Verdienste endlich überdrüssig ist.
Der geübte Leser reibt sich verwundert die Augen. Dieser hymnische, barocke, delirierende Stil. Wann hat man so etwas je gelesen? Wem oder was ähnelt das? Wem eifert Witzel nach? Wessen Epigone ist Witzel? Wer hätte je so geschrieben, wenn …? Thomas Bernhard mit guter Laune? Günther Grass, wenn seine Frau ihm einen Fliegenpilz untergejubelt hätte? Proust, wenn er ein Landgut geerbt hätte? Saint-John Perse und Wladimir Majakowski bei dem geglückten Versuch, einen Roman zu schreiben? Nie werdet ihr's erfahren.
Literatur:
Rock, Rinder und die Posaunen der Poesie von Frank Witzel
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