Menue

Samstag, 22. Juni 2024

»Peer Gynt« von Henrik Ibsen

Peer Gynt

»Peer Gynt« entstand auf der Vorlage norwegischer Feenmärchen von Peter Christen Asbjørnsen. Sie waren zwischen 1845 und 1848 unter dem Titel »Norske Huldre-Eventyr og Folkesagn« erschienen. »Peer Gynt« nimmt sehr viel Anleihen an norwegischen Märchen, es wimmelt darin von Trollen und anderen Gestalten.

Der Romanheld Peer Gynt basiert auf einer historischen Figur aus dem 17. Jahrhundert, die im norwegischen Gudbrandsdalen gelebt hat. Henrik Ibsen schuf mit »Peer Gynt« nach der Vorlage einer alten norwegischen Sage vor 150 Jahren ein zeitloses, sinnliches, von Phantasie und skurrilen Figuren überbordendes Theaterfeuerwerk, voller Wärme und Humor, eine schonungslose Selbstanalyse, ein bezauberndes, trauriges, fröhliches, grimmiges Theatermärchen.

Ibsen kreierte einen schelmischen Taugenichts, der auf der Suche nach sich selbst ist und mit immer neuen Herausforderungen konfrontiert wird.

Peer Gynt i Dovregubbens Hall

Wenn Peer Gynt anfängt zu erzählen, wissen alle: er lügt! Aber er lügt so phantasievoll und charmant, dass die Dorfbewohner seine Geschichten immer wieder hören wollen. Er träumt sich in eine bessere Welt hinein, seine verwitwete Mutter und die bitterarmen Nachbarn lassen sich immer wieder von ihm einwickeln.

"Ich habe nicht, aber ich bin, und wie ich bin, bin ich." [...] Und vielleicht Ist der
Menschenheld nicht die monströse Ausnahme, sondern einer, der Wiederholung besser meistert."
(Ralph Waldo Emerson: in Erfahrung)

Wenn man der Intuition Paul Valerys folgt, der betont, dass der Mensch durch Abstraktion gestaltet und so aus der Zeit und dem Kosmos genommen werden kann, dann kann er als der Eigene benannt werden. "Der Mensch wird nicht ein anderer den er zuvor gewesen, nein, er wird er selbst. [...]; denn das Große ist nicht, dies oder das zu sein, sondern man selbst zu sein; und das vermag ein jeder Mensch, so er will", lesen wir bei Kierkegaard.

Nimmt man diese beiden Prämissen, ist man im Kern des Versdramas in 5. Akten des größten norwegischen Literaten: Henrik Ibsen (1828-1906). Sein Peer Gynt ist ein Sich-Suchender und wie viele Romane dieser Zeit, so fordert auch Ibsen seinen Protagonisten, das eigene Leben neu zu gestalten. Wenn du Leben in dir hast, so kommt es zu dir auf unbekannten und ungewohnten Wegen, ist eine Botschaft von R.W. Emerson in seinem Essay: Selbstvertrauen. Diese ungewohnten Wege entdecken wir hier bei Ibsen, dem an Ideen, Phantasien und Humor nichts fehlt.

"Peer, du lügst!" So direkt stößt Ibsen den Leser in das Versdrama und alles wird klar. Was nun kommt, ist Phantasie, Möglichkeit, Abwägen oder um Kierkegaard zu folgen, die große Frage des Menschen nach dem Selbst oder nach dem Verhältnis, oder besser, was man sein will, wenn man sich selbst sein will. Peer weiß, der er er selbst sein will, weiß aber nicht wie. Und so führt Ibsen ihn in die Welt der Phantasmen, in der er jede beliebige Person sein kann. Er prüft praktisch verschiedene Verhaltensweisen, Denkweisen, um zu lernen durch Entwicklung. Seine Beziehung zu Frauen, zur Mutter wird vielschichtig abgewogen, sein Wille, mehr zu werden als das er ist, läßt ihn zum König, Kaiser werden, ihn durch Wüsten reiten oder vor dem großen Meer staunen, als Metapher für das Rätselhafte, dass kommen soll.

Wenn das ewig Weibliche für Ibsen und Peer bemüht wird, dann lesen wir direkt die Anverwandlung von Goethes Faust II, (vielleicht liegt darin die Ursache, dass Peer Gynt der Faust des Nordens genannt wird) Aber insbesondere geht es um die Kristallisation des "gyntschen Ichs, - das ist das Heer / Von Wünschen, Lüsten und Begehr, -". Dieses als eine Version der Selbstfindung zu sehen, heißt die Möglichkeit zu prüfen. Aber der größere Wert liegt im "wahlfreien Lauf" des Lebens. Hier steht die große entweder-oder Position, nämlich alles ohne Wahl zu bekommen oder ins Nichts zu gehen, wo keine Wahl mehr notwendig ist. "Was sei des Mannes Streben? / Er selbst zu sein, er selbst - nicht wahr?" Mag hier noch durch die Frage Zweifel angedeutet sein, so kann man sicher sein, dass Peer Gynt in all seinen Eskapaden nicht verzweifelt ist. Furcht tritt auf für den Augenblick, keine Angst. Auch hier steht Kierkegaard Pate, denn die Unterscheidung zwischen Furcht und Angst ist bewusst gewählt.

Peer Gynt ist also zunächst ein lauter Prahler, ein vorgeblicher Alleskönner, dem nichts zu schwer, nichts zu probieren, zuwider ist. Er raubt die Braut während der Hochzeit, will beliebig tanzen ohne eingeladen zu sein, streitet mit seiner Mutter, die ihn einen Lügner nennt, wie den Vater einen Säufer. Verprasster Reichtum läßt die Gynts verarmen, nur die Versprechungen eines Nichtsnutz Peer blühen ins Phantastische, auf den die Mutter dennoch nichts kommen lässt. Die geraubte Braut Ingrid läßt er nach einem Tag laufen, flieht in den Wald, trifft auf Trolle, Dämonen und Kobolde, erfindet eben jene Phantasiegeschichten und letztendlich, müde von all dem, kommt er zurück in den Schoß seiner Geliebten Solvejg, umschienen von der romantisch untergehenden Sonne. Sie war wartend wissend ihrer Liebe, Peer mußte durch das Leben streifen, um zu entdecken, was sein Leben sein soll, was sein Leben ist, was sein Selbst ist. "Wo war ich? ist seine Frage und Solvejg in der Anverwandlung an 1Kor 13,13: "In meinem Glauben, in meinem Hoffen und in meinem Lieben."

Nun mag dieses als happy-end zum Lebensende erscheinen. Peer Gynt stirbt wie einst Apollo in John Keats Hyperion ins Leben ("Ein Tod voll Leben"). Doch die Symbolik eines Ibsen macht dieser Idee einen Strich durch die Rechnung. Richtig gefunden hat Peer seine Liebe ("Hier war mein Kaisertum"), sich selbst betrachtet er jedoch wie eine Zwiebel, der man Schale um Schale entfernt und dann auf keinen Kern stößt. Peer Gynt hat also bildreiche Episoden seines Lebens beschrieben, aber noch nicht seinen wahren Charakter. Aber vielleicht ist hier auch eben jene hellenistische Botschaft, dass nur dort die Dinge im rechten Lichte erscheinen, wenn wir sie wirklich leben: im Tun, in Taten lösen sich die Rätsel der Sprache, wie Hofmannsthal es mal formulierte. Ibsen war mit diesem Versdrama "Peer Gynt" und der darin liegenden Sprachkraft wegweisend für die Jugendbildung des Carlo Michelstaedter, der u.a. hier die Wahrheit des Augenblicks als Überzeugung entdeckte. Ihm und seinen Freunden hat Claudio Magris später jenes andere Meer gewidmet als bravouröse Erzählung.

Harold Bloom hält Ibsen für den bedeutendsten westlichen Bühnenautor seit Shakespeare. Shakespeare hat den Menschen in den Mittelpunkt gestellt. Bei Ibsen gibt es auch Menschen, doch sieht man scharf und genau, dann entdeckt man Ibsens Klasse in der Schärfe der Betrachtung eines Menschentypus, eben diesen Peer Gynt, ironisch, reflektierend, sich selbst kopierend. Ibsen über Ibsen: "Es muss ein Troll mir die Feder führen."


Gynt ist ein "halber Sünder", weder gut noch schlecht - er ist ein unernster Renommist. "Peer Gynt" ist neben seinen realistischen Meisterwerken wie z.B. "Nora" eines der großen, zeitlosen Stücke des großen Norwegers Henrik Ibsen.

Literatur:


Peer Gynt
von Henrik Ibsen


Peer Gynt
von Henrik Ibsen

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen