Günter Grass' Lesung vor dem Atomkraftwerk Krümmel am letzten Sonntag befasst sich mit ausgesuchter Literatur, die auf Realität trifft. Grass liest den "1955"-Abschnitt aus seinem Geschichtenbuch "Mein Jahrhundert", das fast kafkaeske Kapitelchen über einen Mann, der sich aus Angst vor dem Strahlentod einen Atombunker bauen will und dabei ganz ohne Strahlung umkommt.
Anschließend aus dem Anfang seines jüngsten Buchs "Grimms Wörter", in dem es um Widerstandskräfte in der Gesellschaft geht, oder eher die fatalen Folgen des Fehlens selbiger. Anschließend wiederholt er, was er an diesem Wochenende in einem exklusiven Abendblatt-Interview gefordert hatte: eine Bannmeile gegen Lobbyisten um den Bundestag.
"Der Naivste begreift mittlerweile, wie käuflich die Regierung geworden ist. In unserem Land ist Korruption weit verbreitet und sanktioniert. Wir können seit Jahren beobachten und nachweisen, dass das von uns gewählte Parlament auf verfassungswidrige Art und Weise von einer immer mächtiger werdenden Lobby beeinflusst wird, bis in die Ministerien hinein", empört sich der bekennende Sozialdemokrat ohne Parteibuch. "Wir sind Gefangene geworden, in einer Demokratie, von einer Lobby, die durch nichts legitimiert ist, einen derartigen Einfluss auszuüben."
Kurze Pause, Pfeifchen und einen Kaffee, danach eine lange Schlange vor dem Signiertisch, und zum Abschluss der Lesung noch der Fototermin fürs Feindbild: Literatur-Nobelpreisträger mit Wendländer Kartoffelsack vor abgeschaltetem AKW. - Wir leben in bewegten Zeiten.
| "Mein Jahrhundert" von Günter Grass Steidl-Verlag, Gebundene Ausgabe, 1. Juli 1999, 24,50 EUR. ISBN-13: 978-3-882-43650-1 |
Günter Grass-Portrait - SPIEGEL-Portrait
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