Die
eine große 9/11-Erzählung gibt es nicht, aber seit dem 11. September 2001 gibt es
einige »New-York-Romane«, in denen die Anschläge eine Rolle spielen. Die Literatur, die über den 11. September 2001 geschrieben wurde, ist keine Chronik der Ereignisse und keine Erklärung der Anschläge. Sie zeigt das, was die Videos und Bilder nicht preisgegeben haben.
Ein amerikanischer Autor aber schien alles vorausgesehen zu haben. Als sich vor 20 Jahren die Anschläge vom 11. September 2001 in New York ereigneten, waren sie von Don DeLillo längst vorweggenommen und erfunden worden. In einer Reihe von Romanen, die zwischen 1977 und 1991 erschienen - vor allem »Spieler«, »Weißes Rauschen«, »Sieben Sekunden« und »Mao II« - entwarf der Schriftsteller
Panoramen einer amerikanischen und westlichen Gegenwart, in der Terrorismus und seine medialen Darstellungen eine nervöse, paranoide Gesellschaft hervorgebracht hatten, die sich von Bombenanschlägen und der Angst vor diffusen Katastrophen leiten ließ.
Nicht wenige Autoren fühlten sich trotz dieses verständlichen Gefühls der Ohnmacht berufen, die Anschläge vom 11. September irgendwie zu erklären, obwohl die zerstörten Türme alles in den Schatten stellten, was sich DeLillo Jahrzehnte zuvor ausgedacht und seine Figuren damals schon sprachlos gemacht hatte.
Wie sich Romane, die im Jahr 2020 spielen, irgendwie mit dem Corona-Virus auseinandersetzen müssen, so mussten sich für einige Jahre alle Romane, die 2001 oder danach in New York spielten, irgendwie zu den Anschlägen verhalten. Die Stadt selbst wurde zur schillernden Metapher, zum Zeichen des Widerstands, der Solidarität und des tugendhaften Zusammenhalts, der nur allzu schnell in einen dumpfen Patriotismus kippte und zu den Zivilisationsbrüchen des War on Terror führte. New York vor 2001 wurde deshalb im Rückblick auch zum Symbol einer verloren gegangenen, sorgenlosen Welt, die im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts beim endgültigen Sieg des amerikanischen, demokratischen Lebensmodells angekommen gewesenzu sein schien.
Das New York in Thomas Pynchons bisher letztem Roman »Bleeding Edge« von 2013 ist eine solche surreale, utopische Welt, in der die Menschen reden, als wären sie Figuren in einer Sitcom, jeder Geld hat oder wenigstens so tut, und das gerade aufkommende Internet mit all seinen Umwälzungen und unerkannten Gefahren noch mit kindlicher Freude begrüßt wird. Alles scheint hier schon im Frühjahr 2001 auf die Anschläge hinzuweisen: angebliche Verbindungen des Bush-Clans nach Saudi-Arabien, brutale Computerspiele, Geldströme in und aus dem Nahen Osten. Jeder hängt hier mit drin, und die Gewalt scheint nicht von außen zu kommen, sondern sich irgendwie aus einer selbstvergessenen Welt der Jahrtausendwende zu manifestieren.
Die andere Metapher neben New York, die sich in der Literatur weitaus weniger, dafür aber umso eindrucksvoller finden lässt, ist die des »Falling Man«, des verzweifelten Menschen, der aus den brennenden Türmen hinabstürzt. Es war wieder Don DeLillo, der 2007 seinem Roman über die Anschläge diesen Titel gab. Neben den Traumata der Überlebenden aus dem World Trade Center beschreibt er auch die Perspektive der Terroristen, die er als unsichere Zweifler darstellt. Dazwischen taucht immer wieder ein Aktionskünstler auf, der ein Bild nachstellt, das der Fotograf Richard Drew am 11. September aufnahm. Es zeigt einen Mann in schwarzer Hose und weißem Oberteil, der kopfüber aus dem Nordturm des World Trade Center stürzt.
Besonders wegen Don DeLillo ist das Bild bis heute zu so einem starken Symbol der Anschläge geworden, denn obwohl er auf der Fotografie recht gut zu erkennen ist, wurde der Falling Man nie identifiziert. Es ist ein Bild, das noch immer Wut und Trauer auslöst, denn der Mann kann in seiner Anonymität wie er da kopfüber vor der sterilen Fassade des Hochhauses zu hängen scheint, für alle Opfer der Anschläge stehen und sogar für alle Menschen, die bei den Anschlägen nicht gestorben sind, aber aus ihrem gewohnten Leben gerissen wurden. Bei Don DeLillo sind schließlich alle Figuren zu »Falling Men« geworden, in eine neue Zeit der Ungewissheit geworfen.
Diesen stürzenden Mann und die Kulisse New Yorks hat schließlich 2018 die Autorin Ottessa Moshfegh in ihrem Roman »Mein Jahr der Ruhe und Entspannung« zusammengeführt. Eine junge New Yorkerin, wohlhabend und gebildet, möchte darin als eine Art Kunstprojekt mit der Hilfe von Medikamenten ein Jahr durchschlafen. Mit minimalem Personal zeichnet der Roman das Bild einer Gesellschaft im Dämmerschlaf, betäubt von Alkohol, Fernsehen und Langeweile. New York ist eine Stadt voller generischer Menschen, in der nur eine selbstverliebte Kunstmarktszene für minimale Abwechslung sorgt und wo echte Beziehungen zu anderen Menschen so selten und wertvoll sind wie nichts anderes, auch wenn das keiner der Figuren bewusst zu sein scheint.
Der nahezu perfekt komponierte Roman endet am 11. September, als die Erzählerin meint, in einer Nachrichtensendung, die sie auf Videokassette aufgenommen hat und in Dauerschleife laufen lässt, ihre beste und einzige Freundin zu erkennen, wie sie aus dem 87. Stock des Nordturms springt.